Rainer B. Jogschies

Journalist - Autor - Dozent, Hamburg
Rainer Jogschies

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Das Leben ist nicht eben mal kurz erzählt.

Hier können Sie Gedanken nachgehen ...

Manchmal muss es mehr sein. Dann reicht der kurze Atem nicht, um zu erklären, was hinter dem steckt, das eben noch klar schien. Der Journalismus hat ohne Not die langen Formen aufgegeben. Das mag seine derzeitige Bedeutungslosigkeit teils begründen. Dabei sind es die täglichen Geschichten, die ab und zu einen Hintergrund benötigen, um nicht zu klein zum Veröffentlichen zu wirken.
Deshalb sind hier drei Beispiele nachzulesen, die schon mehrfach in anderen Zusammenhängen veröffentlicht waren. Sie spiegeln damit auch Zeit, die wir aufzuholen glauben, indem wir uns nur noch kurze Geschichten in den Medien zutrauen. ...

Wenn wir nur von allem so viel hätten wie von der Zeit!

Die Einleitung zu einer kurzen Geschichte eines langen Mißverständnisses: Das nicht alles gut ist, was schnell geht - und wir uns nicht ständig selber hinterherlaufen können, Zwischen Langeweile und Hetze tobt ein Blitzkrieg gegen uns selbst. Aber auch in den Gesellschaften ist der Kampf um die wertvollste Ressource entbrannnt - "Globalisierung" ist nichts anderes als der erbitterte Kampf um die Zeit , jeder hat nur die eine Lebens-Zeit...

Von der Geographie des Gewöhnlichen

Warum ist nicht wichtig, was nebenan geschieht? Wir verachten den Tratsch über Nachbarn - aber ganze Medienzweige kultivieren ihn mit Geschichten über angebliche "Promis" sowie dem Trask der Nachbarn in Talkshows. Wur haben Angst vor dem Fremden und der Fremde, aber wir sehen am liebsten in die Ferne, neuerdings im "Privatfernsehen" wenn Nachbarn ins Ausland "auswandern". Dabei liegt oft so nah, was in der Welt geschieht - und oft in der Nachbarschaft seinen Ausgang nimmt ....

Die verlorene Heimat ....

Was ist ein Vermieter eigentlich für ein Mensch? Er gibt anderen Raum zum Leben. Das ist eine hohe soziale Verantwortung. In Deutschland sind die meisten Menschen noch Mieter! In sozial zerfallenen Ländern sind Menschen zum Eigentum gezwungen - ob sie es sich überhaupt "leisten" können, ist dort keine Frage mehr. Deshalb hier Geschichtchen von einem, der "hunderte Wohnung sein eigen" nannte. Eigentum verpflichtet, heißt es im Grundgesetz, Nur, was heißt das?

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Wenn wir nur von allem so viel hätten wie von der Zeit!

Der notwendige Abschied von einer beliebten Klagehaltung

Rainer B. Jogschies lief dem Stress hinterher - und fand merkwürdigerweise Muße, die ausgerechnet als Langeweile üble Fernsehunterhaltung suchte ...

An manchen Tagen scheint uns die Zeit wie mit Füßen fortzulaufen. Eben noch haben wir überlegt, was wir alles erledigen wollen – und schon ist es wieder mal zu spät! Wir streichen Verabredungen. Wir planen um. Wir legen Wege zusammen. Wir eilen uns und wir hetzen.
Aber es nützt alles nichts! Die Zeit scheint schneller als wir. Wie im Märchen vom Hasen und von den Igeln ist es oft zu spät für das, was wir tun wollten und noch vorhaben. Es ist ein Elend.
Nur selten nehmen wir es genau umgedreht wahr. Das trifft dann noch empfindlicher. Denn manchmal wissen wir einfach nichts mit unserer Zeit anzufangen! Wir liegen stattdessen herum, blättern lustlos in der Zeitung und freuen uns, wenn der Abend einen Spielfilm zur Unterhaltung bringt. Dann wird der Tag wenigstens eine Aufregung gebracht haben. Wenigstens einen Kitzel gegen die Langeweile!
Einige haben diesen freilich seltenen Zustand sogar systematisch "geplant". Es wird wohl besser alles "geplant“ in einem andauernd "zu kurz“ scheinenden Leben. Oft ein Jahr im Voraus wird da der Abstand vom augenblicklichen Druck Punkt für Punkt vereinbart. Am besten vertraglich, mit Rücktrittsklauseln! Das wird dann "Urlaub" genannt. Es ist die Zeit, in der endlich aus dem rasenden Alltag "ausgespannt" werden darf.
Nein: Es muss ausgespannt werden! Koste es, was es wolle! Und wenn es zwei oder drei volle Monatslöhne wären! Auch wenn wir dann drei Dinge gleichzeitig tun müssten: Animationen überstehen, uns erholen und "Kultur tanken". Nur so ist der langweilige Alltag danach wieder schneller zu bewältigen. Es ist eine Freude.
Aber Halt! Das ist doch schon ein ziemlich merkwürdiges Wechselspiel aus Hetze und Langeweile! Wer sich Zeit "nimmt", nachzudenken über die Hetze, die uns quält, und die Ruhe, die uns fehlt – der kommt sogar schnell noch auf weitere widersprüchliche Umstände jenseits seiner eigenen "stressigen" Erfahrungen. Beispielsweise ist es ja alles andere als Urlaub, wenn einer gezwungenermaßen "Muße" hat.
Gründe dafür gibt es wiederum viele. Aber sie klingen oft eigenartig nach Rechtfertigungen. Wer beispielsweise arbeitslos geworden oder pensioniert ist, der beklagt eher seltener den "Mangel" an Zeit. "Freie" Zeit wird dann plötzlich gar nicht mehr als Reichtum gesehen wie sonst üblich in unserer rasenden Gesellschaft, sondern als ein unnutzer Überfluss – als "überflüssig" eben. Schlimmer noch: Die Menschen mit so viel Zeit werden von manchem politischen und zeitlichem Hetzer als "überflüssig" angesehen. Irrer noch: Manchmal erscheint Zeit andererseits sogar denen "überflüssig", die kaum welche für sich haben. Selbst wenn Menschen mit einem Arbeitsplatz allgemein und grundsätzlich am Seufzen sind über die misslichen Lebensumstände heutzutage, dann stellt sich der sonst beklagte "Stress" oft genug denkwürdig anders dar: "Wenn wir nur von allem soviel hätten wie von der Zeit," heißt es dann fast sprichwörtlich.
Doch oft ist damit wohl eher nicht ein "Zuviel" an Zeit, sondern ein "Zuwenig" an Geld gemeint. Es "fehlt" trotz der großen Hetze. Vielleicht aber, dies ist ein ungewohnter Gedanke, "fehlt" es gerade wegen der Hast. Denn was alles muss man kaufen, um zu vergessen, dass es etwas Unbezahlbares gibt: Die Zeit.
Das alles wirkt wie unentwirrbare Widersprüche. Doch es ist nur zu vertraut. Man kriegt das alles schon irgendwie geregelt. Es klingt teils auch nach unversöhnlichen Gegensätzen.
Aber wer lebt gerne in Widersprüchen oder Paradoxien, wo Penthäuser und Resorts als erstrebenswerter gelten? Das will sich doch keiner nachsagen lassen! Man richtet sich ein. Zeit sieht zum Glück nicht immer aus wie bei IKEA gekauft.
Zumindest wirken die hier aufgeführten Situationen und Redensarten paradox. Manchmal auch lächerlich. Dennoch werden solche einzelnen, aber keineswegs vereinzelten Sätze oft sogar in ein und demselben Zusammenhang gesagt. Ohne Atempause. Hetze und Muße, Stress und Urlaub, Freizeit und Arbeitslosigkeit, Zeit und Geld wirken jeweils wie zwei untrennbare Seiten einer Medaille.
Es muss für ein Wesen aus einer anderen Welt (oder auch "nur" Menschen aus der "Dritten Welt“) gerade so klingen, als würden da völlig verschiedene, einander feindlich gesonnene Eigenbrötler streiten. Oder gar als ob andere "Kulturen" möglicherweise zwar vom selben Thema oder Gefühl redeten. Aber sie verstünden einander nicht im Mindesten. Geschweige denn, dass sie sich einigen könnten. Ist es denn so schwierig, auszudrücken, was da drückt? Ist es bloß die Zeit? Oder richtiger: Der Zeitmangel?
Im Grunde genommen sind sich doch alle irgendwie einig. Allerdings nicht zur selben Zeit. Denn Zeit "haben" sie vermeintlich nicht. Erst recht nicht gemeinsam.
Doch es sind, im Ernst der heutigen Zeit, durchaus wohl kaum allein persönliche Widersprüche. Aber sind es nationale? Es sind mitnichten alles ausschließlich deutsche Besonderheiten, die den auffallend klagevollen, und selten lustbetonten Umgang mit der Zeit ausmachen.

Dem soll im Folgenden zur Einstimmung ins zeitliche Gedränge erst nur kurz nachgegangen werden. Zunächst liefert das Beispiel der Arbeitszeitverkürzungen und ihrer Kehrseite, der Intensivierung der Lebenszeit, einen Einstieg. Die Steigerung der freien Zeit, ob durch Mehrung oder Verdichtung, wirkt wie ein Weg weg vom Stress: Beides, Arbeitszeitverkürzungen und Lebensintensität, wurden eingangs schon erwähnt als seien es selbstverständliche Eckpunkte eines mehr oder minder bewussten Umgangs mit der Zeit. Dabei stehen dahinter, wie wir sehen werden, alles andere als eindeutige Orientierungen. Beides scheint vermeintlich ganz praktische Antworten zu geben auf die stets zu knappe Zeit: Die Arbeitszeitverkürzungen bringen mehr freie Zeit. Indem wir freie Zeit dann möglichst intensiv nutzen, haben wir mehr davon. So wird es jedenfalls in Statements von Gewerkschaftern und Politikern oder in Lebensratgebern in Illustrierten derzeit gern behauptet. Aber sind das wirklich Lösungen? Lösungen für welche Probleme eigentlich? Wir reden es uns jedenfalls gerne ein. Deshalb werden wiederum so oft Arbeitszeitverkürzungen öffentlich gefordert. Es ist eine Spirale. Aber ist der Bedarf gestiegen oder nur die Forderung nach "Mehr Zeit“? Und da, wo bereits "mehr Zeit" ist, wird schon überlegt, wie wir, zum Zweiten, die wenige, "freie" Zeit denn intensiver nutzen könnten. Es steckt zu viel Unausgesprochenes hinter den lockenden Schlagwörtern "Arbeitszeitverkürzung" und "intensiv leben". Es sind wohl keine so einfachen Lösungen wie sie zunächst klingen. Der Stress wird schlimmer. Es ist ein, wenn nicht gar "das" Grundproblem des gerade beginnenden dritten Jahrtausends. Es ist nicht lokal und nicht nebensächlich und schon gar nicht individuell, wie mit Zeit umgegangen wird. Es geht um den letzten natürlichen Rohstoff, der auf diesem Planeten noch zu verteilen ist: Die Zeit. Besser gesagt: Es geht um die natürliche, aber nicht mehr so empfundene Ur-Zeit. Mit der kaum empfindbaren Uhr-Zeit kommen wir noch weniger zurecht als mit der naturgegebenen. Auch wenn alle so tun. Denn egal wie manche "Lösungen" zur "Arbeitszeitverkürzung" doch kleinlich und noch hetzig aussehen, beispielsweise die schon legendären "Rationalisierungen" in Betrieben und Behörden: Es wirkt – das zum Trost – immer irgendwie zurück auf die Anderen, vielleicht sogar auf die gesamte Menschheit und mit ihr wiederum auf jeden Einzelnen, womöglich in einem ungeahnten, teilweise grundsätzlichen Ausmaß. Wie und wie sehr werden wir im Folgenden ebenfalls an vielen kleinen Beispielen noch sehen. Die Kleinteiligkeit und Alltäglichkeit dieser Beispiele soll helfen, nicht aus lauter Respekt vor dem klangvollen Ausspruch zu verharren, es treffe ja wohl alle und jeden, die Welt und den Nachbarn, Dich und mich, das Allgemeine und das Private, das Grundsätzliche und das Persönliche. Zeit ist eben so zentral in unserem Leben. Das wird selten eingestanden. Weil die Macht über die Zeit, was noch nahezu unbemerkt ist, die Macht über die Menschen ist und damit über alles, was sie besitzen – deshalb muss die Rede auch auf "die Welt" und ihre Änderung kommen. Auch, wenn es zunächst vermessen klingt.

Wie wir uns den "Zeit-Mangel" einreden (lassen) und pflegen

Es klingt nur am Anfang überzogen, Stress und Macht zusammenzubringen. Es ist ganz schlicht gemeint: Der Mensch kommt eben mit nichts anderem zur Welt als mit der Zeit. Sie ist die Dauer seines Lebens. Mal länger, mal kürzer.
Wer die Zeit aus der Hand gibt – egal ob durch Arbeit, Familie, Eigenheimbau oder was auch immer – "verschenkt" sein Leben an Umstände oder andere Menschen. Da und dann wird er machtlos.
Es wird allerdings zumeist anders empfunden. Wer nämlich in der Illusion lebt, der "Herr über seine Zeit" zu sein, "nutzt" sie nach seinem besten Selbstverständnis. Er richtet sich im Leben ein wie in einem Einfamilienhaus. Er hält Zeit und Leben auseinander. Ihm gerinnt die Zeit durch Arbeit in allerlei nützliche wie auch in überflüssige Güter. Er hat vermeintlich nichts "verschenkt". Was er dadurch besitzt, kann er dann zeigen. Zeit wird so sichtbar. Der sie "genutzt" hat, kann mit dem ganzen Recht der guten Sachen sagen: "Dies ist mein Leben.“
Es ist nicht mehr und nicht weniger als das, was er sich verdient und geschaffen haben. Wenn er Pech hat, wird dann mitleidig gelacht. Wie in der Werbung, wo das Vorzeigen von Haus, Auto und Swimming Pool auf Fotos immer nur noch größere, getätigte Ausgaben des Anderen aus dessen Brieftasche hervorlocken, wo einst die Bilder der Lieben verwahrt wurden – aufgenommen ebenfalls im Westentaschenformat ...
Auch wenn solch Vorgezeigtes sogar diesen Menschen überdauern sollte, der stolz war, was er mit "seiner" Zeit "schuf" – die Zeit darin ist bereits für den verloren, der sie vorzeigt. Er hat bereits alles ganz früh verloren – er, der sie zu "besitzen" glaubte, indem er sie auf Vitrinen stellte, in Carports parkte oder auf die Couch-Garnitur legte wie gekniffte Kissen oder im Portemonnaie einsteckte wie eine Visitenkarte.
Dies ist schwer zu begreifen in einer Gesellschaft, in der jemand eben das ist, was er hat. Und "mehr hat" vom Leben angeblich, wer sich eben keine Zeit lässt und hetzt ohne jede Pause!
Das wird in diesen Betrachtungen zusammenfassend die "Non-Stop-Gesellschaft" genannt. Ein wenig boshaft und mit doppeltem Sinn eingedeutscht könnte sie auch eine völlig "haltlose" Gesellschaft heißen. Es gibt auch scheinbar deswegen keinen Halt, weil alles immer weiter gehen muss.
Wie die Uhren, die immer weiter laufen, mal im Kreis, mal wie die Digitaluhren scheinbar geradeaus ins Unendliche. Wie Hase und Igel. Deshalb steht am Ende der Betrachtungen auch der Rat, endlich anzuhalten: Sich Aus-Zeiten zu verschaffen, um Zeit zu haben.

Das Leben ist ja kein Uhrwerk. Wer maßt sich an, dagegen anzurennen? Wer ist Hase? Wer ist der Igel? Wer wollte seine Zeiger nicht beliebig vor- und zurückstellen können? Die meisten Menschen in den westlichen, den "reichen" Gesellschaften (trotz all ihrer Abermillionen Arbeitsloser – und damit unfreiwillig Zeitreichen) haben sich nämlich nur äußerst ungern daran gewöhnt, dass der Tag vierundzwanzig Stunden hat. Sie meinen, eher die Uhren nach ihrem Leben aufziehen zu müssen. Die gegebene Zeit reicht ihnen nicht. Sie hätten die Tage gerne länger, um "alles zu schaffen“: Nicht nur die Arbeit, sondern auch gleich noch das eigene Leben.
Am besten wäre ein "36-Stunden-Tag“! Dann wären die Tage endlich lang genug. Man könnte alles schaffen und hätte noch Zeit. Vielleicht.
Manche "machen" daher provisorisch schon mal die Nacht zum Tag oder umgedreht. Im Frühjahr 2004 erschien der Roman "Wir schlafen nicht!", in dem Kathrin Röggla die hastende Lebens-“Philosophie" einer schlaffeindlichen Subkultur vorstellt. Ein ziemlich ausgeschlafenes Buch, voll im Trend und in der Mode.
Nicht die Uhr-Zeit stellt sich gegen uns Gestresste und unser eiliges Leben. Im Gegenteil: Wie wir uns auf sie einstellen, ist die eigentliche Gegnerschaft. Aber wer mag schon erkennen, dass er sich selbst der liebste Feind ist? Wir führen einen Krieg gegen uns selbst – das aber ein bisschen plötzlich! Es ist ein Blitzkrieg, weil wir keine Zeit zu haben meinen. Aber irgendwie nutzt alles nichts. Der Tag ist nun mal 24 Stunden "lang" oder "kurz". Wenn nicht gerade die jährliche Uhr-Umstellung von der "Sommer-" auf die "Winterzeit" wenigstens einmal im Jahr einen "25-Stunden-Tag" beschert, dem heimwerkerhaften Versuch, die Tage "länger" zu machen. Gibt es also einen durchgängigen "Mangel an Zeit“? Oder ist es gar ein "Mangel der Zeit“?

Es scheint so, als wäre der Mangel naturbedingt – welcher Art er auch immer sein möge. Gegen die Natur hilft nichts. Selbst, wenn die Nacht zum Tag gemacht wird! Es nutzt nichts. So glauben wir. Denn egal wie wir es und uns drehen, wie wir hetzen und gehetzt werden: Durchschnittlich wird sowieso schon mal ein ganzes Drittel der Lebenszeit verschlafen, egal zu welchen Uhrzeiten. Zweitausendneunhundert Stunden "verschläft" der rechnerische Durchschnittsmensch jährlich. Das sind über hundertzwanzig Tage, also das Vierfache des üblichen deutschen Jahresurlaubs. Da liegt ein "Zeitmangel" nahe. Wohlig schlummert er bereits neben uns auf den Kissen. Wehe, wir werden wach!
Andererseits heißt ein landläufiges Sprichwort doch "Zeit ist Geld". Aber im Schlaf verdienen es nur Wenige. Im Gegenteil: 5.860 Stunden wacht der Mensch wie ein Kettenhund, dass ihm sein Leben nicht wegkommt. Aber irgendwie passiert es dennoch. Und eigentlich weiß kaum jemand wie. Es wird viel gebellt, aber es ist kein Einbrecher zu sehen. Was ist da los?
Hinweise auf Hinterhalte und anderes Hintersinnige gibt im Zweifel immer wieder der deutsche Gesetzgeber. Vom Beginn dieses Jahrhunderts an hatte er sich vom "Nachtwächterstaat" zum Gestalter der Zukunft an der Jahrtausendwende aufgeschwungen. Lichtvolle Beispiele für diese staatliche Entwicklung waren dann am Ende des vorigen Jahrhunderts die "Verlängerung der Ladenöffnungs-Zeiten" oder die "Aufhebung des generellen Verbots der Wochenendarbeit". Im hundert Jahren war damit das Gegenteil dessen erreicht, wofür man sich über mehrere Generationen eingesetzt hatte. Endlich "darf" auch am Wochenende Stress und Arbeit sein. Endlich darf kurz vorm Zubettgehen eingekauft werden.
Doch wurde mit diesen letzten "Liberalisierungen" wenigstens ein Teil des "Zeitmangels" behoben? Was genau an "Freiheiten" brachte es? Außer eine Woche ohne Ende und nächtliche Heimwege für Verkäuferinnen? Hat es die gestresste Gesellschaft bereichert?

Sehen wir auf vorangegangene Reformen. Gleich nach der "Währungsreform" und der Verabschiedung des Grundgesetzes wurden beispielsweise 1950 noch 2.700 Stunden für "Arbeit" und den Weg dorthin verwandt. Das war noch am Beginn der bundesrepublikanischen Staatlichkeit und der von ihr begünstigten, scheinbar zeitlosen Wirtschaftsform des "sozialen Marktes". Sechzehnhundert Stunden waren seinerzeit der "Freizeit" vorbehalten und 1.560 Stunden anderen Verrichtungen. Die gesetzliche "Arbeitszeitordnung" jener frühen "Aufbau-Jahre" nach dem Zweiten Weltkrieg war entsprechend streng. Die Gewerkschaften, allen voran die Industriegewerkschaft Metall, erkämpften 1956 in wochenlangen Streiks wenigstens den "freien Samstag für Vati". Das war schon ein Fortschritt.
Doch wozu? Wo führte das hin? Es ging schrittweise von der "Sechs-Tage-" auf die "35-Stunden“-Woche zu – und bei VW zur "Vier-Tage-Woche". Der Zeitverschleiß ist fünfzig Jahr später um fast ein Drittel gesunken: Auf zweitausend Stunden jährlich für Arbeitszeit und Arbeitsweg. Trotz dieser und anderer zwischenzeitlich errungener enormer "Arbeitszeitverkürzungen" ist die "Freizeit" statistisch jedoch nur um fast ein Viertel (auf 2.100 Stunden) gestiegen! Als im Sommer 2003 die IG Metall in Ost-Deutschland für die Einführung einer Woche mit vermeintlich nur 35 Stunden streiken ließ, da war in Interviews mit Streikenden oft lediglich davon zu hören, dass man endlich eine "Anpassung an den Westen" wünsche. Von der Sehnsucht, vom Stress wegzukommen, war da keine Rede. Wo Papi am Samstag ist, war wurscht.
Und als wäre solch Neid auf den vermeintlichen Zeitreichtum da irgendwo im Westen nicht schon denkwürdig deutsch genug: Die zitierten und sonstigen Zeit-Zahlen nach einem halben Jahrhundert wirtschaftlicher "Wunder" wirken nach der "Jahrtausendwende" nüchtern, wenn nicht gar ernüchternd. Ihre verborgene zeitliche Beziehung stellt ein verdrängtes Politikum in Deutschland dar. Wie es überhaupt merkwürdig ist, dass sich zwischen 1992 bis 2002 die Jahresarbeitszeit in West-Deutschland um 71 Stunden auf durchschnittlich 1557 Stunden verkürzte – und dennoch geklagt wird als sei es ein seltenes Joch.
Weltweit wird nirgendwo weniger Zeit auf der Arbeitsstelle verbracht. Lediglich niederländische, dänische und französische Arbeitnehmer sind gegenüber Ost-Deutschen weniger im Betrieb, nämlich 15 bzw. 35 und achtzig Stunden im Jahr. In den oft hoch gelobten USA mit einer üblichen Vierzig-Stunden-Woche müssen jährlich fast 350 Stunden mehr geleistet werden.

Was wird da also landläufig verglichen, wenn ganz allgemein geklagt wird? Was wird ersehnt oder verdrängt? Warum ist überall Zeit, nur nicht gerade hier? Auch im Land selber ist es allerdings wohl schwierig, die Maßstäbe zu finden, um sich vernünftig über Zeit und Stress zu unterhalten.
Über die letzten Jahrzehnte ergibt sich für Deutschland nämlich, wie schon angedeutet, eine denkwürdige Rechnung: Die "Arbeitszeit" sank seit den Fünfziger Jahren in Deutschland im Schnitt um 15 Stunden die Woche. Das sind immerhin sechzig Stunden im Monat. Rein rechnerisch hätten Arbeitnehmer somit weit über dreitausend Stunden, also 125 Tage, im Jahr "gewonnen". Doch der statistisch nachgefragte "Gewinn" an "Freizeit" macht kaum fünfhundert Stunden aus, also nicht einmal 21 Tage. Das heißt: Nicht einmal ein Sechstel der Tages- und Stunden-Zahl, die durch das Weniger an Arbeit "frei" wurden, sind auch "Freizeit" geworden.
Die Diskussion um weitere "Arbeitszeitverkürzungen" geht daher trotz aller Hetze in der NON-STOP-GESELLSCHAFT womöglich an der Sache vorbei. Nicht nur, weil beispielsweise die Wege zur Arbeit immer länger dauern. Längst haben sich wohl andersartige zeitliche Belastungen ergeben, einerseits durch eine Arbeitsintensivierung und andererseits beispielsweise durch das Vordringen der Single-Gesellschaft eine Zersplitterung von Lebenszusammenhängen. Davon später.
Sie sind jedenfalls inzwischen die gängigen Gegenpole zur Intensivierung der Lebenszeit und zur Arbeitszeitverkürzung. Sie scheinen zu verhindern, dass der statistisch nicht zu bestreitende "Gewinn" an Zeit im Leben eher einem Verlust gleichkommt.
Es ist, wie die eingangs erwähnten Widersprüche, eine kuriose Wirklichkeit: Auch wenn die "freien" Stunden zunehmen, wächst die Zahl der "fehlenden" ähnlich. Je mehr erreicht wird, was gefordert ist, desto mehr hat man es nötig ...
Die Uhr-Zeit steht uns also eigentlich günstig. Aber die gefühlte Zeit hinkt hinterher. Es gibt keinen "Zeit-Mangel". Aber wir pflegen ihn.

Wir reden ihn uns ein, nicht zuletzt, weil Andere ihn nicht so ganz ernst nehmen. Das verschärft den merkwürdigen, zunächst sozialpsychologischen Vorgang auch noch politisch. Denn der (gewerkschaftliche) Wunsch nach Arbeitszeitverkürzungen hat bei aller Sehnsucht, vom Stress wegzukommen, eine dunkle Kehrseite. Es ist ja gar nicht so unrealistisch, noch weiter zu "verkürzen", wie diejenigen bestreiten, die ihrerseits die Arbeitszeit sogar noch verlängern wollen. Faktisch ist die Arbeitszeit bereits für weit über vier Millionen Menschen in Deutschland weiter "verkürzt" worden als je tariflich beabsichtigt. Für Viele sogar auf Null. Damit erst wurde dem jahrelangen Gerede von der "Freizeitgesellschaft" Deutschland, das gegen jegliche "Arbeitszeitverkürzungen" angewidert ins Feld geführt worden war, der Boden bereitet. Denn diese Menschen haben nur noch "Freizeit". Aber was für eine? Die bisherige erfolgreiche, faktische und teils ungewollte Politik der "Arbeitszeitverkürzungen" hat das Problem nicht beseitigt, sondern im Gegenteil – wie gesagt – verschärft.
Zuletzt brachte die sozialdemokratisch-grüne Bundesregierung im Sommer 2003 statt weiterer "Arbeitszeitverkürzung" eine zusätzliche "Streichung von Feiertagen" und "Urlaubsansprüchen" ins Gespräch. Das wird kaum die gesellschaftlichen Zeit-Probleme mildern. Von ihrem behaupteten, aber fraglichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Nutzen ganz zu schweigen! Doch auch davon später.
Solche und andere Widersprüche, sowie die dahinter verborgenen widerstreitenden Positionen werden uns durch diesen Essay begleiten. Es bleibt dabei eine ständige Frage, warum sich Menschen einerseits immer mehr sehnen, dass die Tage länger sein würden – andererseits aber ihre "freie" Zeit (zumindest rechnerisch) so stark zugenommen hat, dass dies alles andere als nötig wäre.

Nur wer das Thema "Zeit" in allen Facetten und im Detail direkt und konkret anpackt statt ganz allgemein und abgehoben über die "Verkürzung der Arbeitszeit" zu reden, wie es einige Gewerkschafter und die Parteien derzeit noch tun, wird in den kommenden Jahren in der Politik wirklich gestalten können. Es geht längst um mehr als die ungerechte Verteilung der Arbeitsplätze!
Dennoch sehen die Lösungsversuche immer wieder verzweifelt gleich aus. Die beim Abschließen dieses Buches beispielsweise in einem Tarifstreit von der Hessischen Metall-Industrie geforderten "Arbeitszeitverlängerungen" wären jedenfalls alles andere als produktiv oder fortschrittlich gewesen. Sie wären für die NON-STOP-GESELLSCHAFT nach all den jahrzehntelang vorangegangenen Arbeitszeitverkürzungen nicht nur im Januar 2004 ein faktischer Rückschritt. Ein halbes Jahr nach dem missratenen Streik der IG Metall in Ost-Deutschland zur Einführung der 35-Stunden-Woche waren sie ein wörtlich hetzender Affront. Im Juli 2004 rang der Handy-Hersteller Siemens seinen Arbeitnehmern die Vierzig-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich ab – diese müssen nun fünf Stunden länger ackern, damit noch mehr Gören preisgünstiger mit Handys Schulden anhäufeln können. Auch andere Arbeitgeber wie Daimler-Chrysler verlangten danach gleich drastische Verlängerungen der Arbeitszeit.
Es wird allerdings für die gesellschaftliche Zeit nichts bringen. Schon ab den Neunziger Jahren forderten sowohl Christdemokraten als auch "Liberale" immer wieder harsch die generelle Wiedereinführung der Samstags- und der Sonntagsarbeit. Nicht nur das: Sie verlangen gar originell die Wiedereinführung der "40-Stunden-Woche". Die Produktivität war gleichwohl hoch.
Es war kein ideologischer Ausrutscher allein. Verknüpft wurde damit oft die Forderung nach einer Heraufsetzung des Rentenbeginns. Es wird damit indirekt eine "Extensivierung", also eine Ausdehnung des Arbeitslebens, gepredigt. Dies aber keineswegs, um die Arbeitshetze durch eine längerfristige Zeitverteilung zu verlangsamen! Und auch nicht, um die ungewollte Arbeitslosigkeit endlich zu bekämpfen. Schon gar nicht, um ähnlich wie die "Slow Food“-Bewegung, die sich gegen Fertiggerichte und das Herunterschlingen wendet, umgekehrt eine "Slow-Production“-Ideologie zu verbreiten. Nein, lediglich die noch zu steigernde Hetze soll für die Arbeitsplatzbesitzer verlängert werden! Weil jene etwa zu wenig leisteten? Im Gegenteil: Die vermeintliche (weil nur zeitlich und nicht beispielsweise in Stückzahlen ausgedrückte) "Verringerung von Arbeitszeit" wird allerorten wie selbstverständlich mit der größeren Auspressung, der Extensivierung, ausgeglichen. Seit vielen Jahrzehnten wird bereits mit jeder verkürzten Arbeits-Zeit von den Betrieben (und noch nicht vom Gesetzgeber) stets eine noch höhere Produktion abverlangt. Mit ihr könnte die Verkürzung also von den Betrieben finanziell "ausgeglichen" werden! Die Hetze aber, die mit der Verkürzung der Arbeitszeit gemindert werden sollte, nimmt so noch mehr zu. Aber noch aus anderen Gründen "braucht" es keine zusätzliche Arbeitszeitverlängerung, um immer mehr Waren auszustoßen:
• Warum angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, der hohen Arbeitszeitverkürzungen und der enormen Zunahme der Produktivität dann seit Anfang der Neunziger Jahre zunächst von den Christdemokraten und "Wirtschaftsliberalen" und inzwischen auch von der rot-grünen Koalition immer wieder die "Verlängerung der Lebensarbeitszeit" diskutiert wird, kann nur schwer mit Vernunft erklärt werden. Komischerweise sollen dadurch beispielsweise die Arbeitsplatzinhaber mit ihrer Lebenszeit mehr Rente einzahlen. So eine Begründung. Sie zahlen mehr ein für eine Rente, die andere durch zwangsweise "Verkürzung" ihrer Arbeitszeit verfrüht erhalten. Für sie selber wird dadurch am Ende nicht mehr viel Rente übrig bleiben – wenn sie diese nach all der Hetze überhaupt erleben.
• Warum gibt es diese tiefe Kluft zwischen dem, was viele Menschen wollen, und dem, was viele Politiker, ob in der SPD, bei den Grünen sowie anderen selbst ernannten Gesellschaftsreformer fordern? Solche uhr-zeitlichen "Reformen" sind angesichts des landläufig empfundenen Zeit-Mangels bei gleichzeitiger Zunahme der Zeit-Gestaltungsmöglichkeiten geradezu vor-zeitlich. Es wäre ein "Fortschritt" zurück in die Vergangenheit der frühen "Arbeitszeitverordnungen" eines Nachtwächterstaates. Es wird aber so getan als wäre es der Stein der Weisen: Dass alles so werden soll wie es längst war.
• Was wäre daran weise, noch weniger Zeit zum Leben zu haben? Es ist wohl mehr ein schwerer Stein, der auf einer dadurch bedrückten, deutschen Seele ruht. Denn das Klagen über eine Krise wird mit dem Zungenschlag der Luxusverwöhnten erzählt: Als gäbe es von nichts mehr als von der Zeit. So, als würde man überall ständig sagen: "Wenn wir nur von allem so viel hätten wie von der Zeit!" So als würde man sich beim Lügen selber nicht hören. Die "Verkürzung der Arbeitszeit" beinhaltet jedenfalls – wie schon die wenigen obigen Zahlen andeuten – noch keinen automatischen "Gewinn" an Lebenszeit. Die Verlängerung erst recht nicht.

Diese Absurdität solcher politischer "Reform-Ideen" und ihre versteckte Zynik sind keine Einzelfälle. Auch die politisch vehemente Förderung von "Mini-Jobs" seit Ende der Neunziger Jahre täuscht arg über alle Lebensgrundlagen hinweg. So wie die Einnahme mehrerer "Mini-Mahlzeiten", die in der Regel gehaltlose Industrie-Snacks sind, keine gesunde, ausgewogene Ernährung ist. Snacks ersetzen keine Lebens-Mittel. "Mini-Jobs" sind auch keine satt machenden Lebensmittel.
Denn die "kurze" Arbeitszeit führt wegen des geringen Entgelts dazu, dass mehrere "Mini-Jobs" ausgefüllt werden müssen. Mit der Lebenszeit der Menschen wird also noch respektloser zugunsten kurzfristiger Gewinne umgegangen. Es gibt in der öffentlichen Debatte derzeit, wie schon die wenigen Beispiele andeuten, wenig Ausgewogenheit zwischen Lebens- und Arbeitszeit. Auch die favorisierte "Teilzeit-Arbeit", die für mehr Lebenszeit und mehr Arbeit sorgen soll, ist reine Augenwischerei. Anfang der Neunziger arbeiteten bereits 4,7 Millionen Menschen (14 Prozent) in sogenannter "Teilzeit". Zu Beginn dieses Jahrtausends waren es 20,8 Prozent. Doch von diesen 6,8 Millionen Beschäftigten waren 5,87 Millionen Frauen und ganze 0,93 Millionen Männer. Diese geschlechtsspezifische Verteilung der Arbeitszeit ist weder wirtschaftlich begründbar, noch in der Aufteilung der Lebenszeit zu rechtfertigen.
Frauen unterliegen in vielen westlichen Gesellschaften dieser Geringachtung ihrer Lebenszeit; sie bekommen zumeist gar kein Geld für ihre Arbeit. Der Sexismus ist längst nicht dadurch abgeschafft, dass Frauen in vielen Ländern rauchen, ihre Frisuren und das Gesicht offen zeigen oder wählen dürfen. Von ihrer viertelstündlichen "Wahl" der Binden für String-Tangas in der Fernsehwerbung ganz zu schweigen.
Bei der ebenfalls politisch geförderten "Leiharbeit" – angeblich zur Senkung der Arbeitslosigkeit – ist das Geschlechterverhältnis übrigens genau umgekehrt. Seit 1997 stieg ausgerechnet unter der rot-grünen Regierung die Zahl der Beschäftigten in Zeitarbeitsunternehmen um über fünfzig Prozent. Die Verwaltungsberufsgenossenschaft stellte 2001 jedoch verblüfft fest, dass 77 Prozent der rund 782.000 Beschäftigten Männer waren. Nach einer Studie der Industrie- und Handelskammern und dem Institut der deutschen Wirtschaft galten bereits in 2003 für 63 Prozent aller Arbeitnehmer "flexible Arbeitszeiten". Ob sie bei einem Arbeitgeber oder in der "Leiharbeit" etwas am arglosen Umgang mit der Lebenszeit ändern konnten, muss bezweifelt werden.

Wenn wir nur von allem so viel hätten wie von der Zeit? Haben wir denn überhaupt noch Zeit? Oder haben wir Zeit noch nötig? Wer will da also ständig "mehr" Zeit haben – und von wem? Arbeitnehmer vom Arbeitgeber? Gesetzgeber vom Bürger? Männer von Frauen? Oder geradewegs umgekehrt? Oder eher jeweils Beide von Beiden? Oder sowieso Alle von Allen? Macht das die Auseinandersetzung um die knappe Zeit so schwierig?
Es gibt beispielsweise zwischen "Arbeitsverkürzungen", Lebens- und Wochenarbeitszeitverlängerung, "Teilzeitarbeit", "Mini-Jobs", "flexibler Arbeitszeit" oder gar "Leiharbeit" jedenfalls keinerlei Diskussionsfaden, schon gar nicht einen, der die auseinander strebenden Bedürfnisse und Interessen berücksichtigen würde. Und es gibt auch kein zeitliches Ziel für diese "Reformen", ein gesellschaftliches am allerwenigsten.
Man könnte ja beispielsweise die höheren Produktionsausstöße zur Finanzierung der Renten nutzen. Unbeachtet blieb bisher auch das Argument, dass die Verkürzung der Arbeitszeit dazu dienen kann, mehr und mehr neu einzustellende Menschen den Produktionsausstoß auf einem vereinbarten Level halten zu lassen – statt "grenzenloses Wachstum" zugunsten immer Wenigerer zu predigen.
Dazu sollen im Weiteren einige Beobachtungen, Überlegungen und Argumente vorgestellt werden.
Auch werden erkennbar "falsche" Wege kommentiert. Diese Bewertung "falsch" rührt zumeist aus dem durchaus erkennbaren Unterschied zwischen einer Wahrnehmung und einer Wirkung oder dem Widerspruch zwischen Gewünschtem und Verwirklichtem oder Gefordertem und Vernachlässigtem.
Es meint also nicht immer gleich, dass etwas beispielsweise moralisch verwerflich wäre. Allerdings spart dieser Essay im Weiteren nicht an Positionen, die auch mit Vorwürfen markiert werden. Wer diese Bewertungen wiederum "falsch" findet, ist herausgefordert, sie zumindest für sich klar zu legen. Das ist ein erster wichtiger Schritt, mit der eigenen Zeit und der Anderer umzugehen. Doch "richtige" Wege kann jeder nur für sich selbst herausfinden. Im Gespräch mit Anderen, in Parteien oder Gewerkschaften, können dann gesellschaftliche Lösungen gesucht werden. Denn nur die Auseinandersetzung über das "Richtige" und "Falsche" der gesellschaftlichen Zeit kann etwas an dem größtenteils unbewussten Erleben der Zeit ändern.

Dieser Essay erschien 2004 als einleitendes Kapitel zu dem durchaus schlendernden Gedankengang "Blitzkrieg gegen sich selbst: Die Non-Stop-Gesellschaft" (S. 10 - 20) Näheres zu dem Essayband erfahren Sie hier.

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Von der Geographie des Gewöhnlichen

Ein Gedankengang durch eine unbedeutenden, weltweit bekannten Stadtteil.

Rainer B. Jogschies über die kleinen Geschichten, die erst die große Geschichte ausmachen ...

Wie liest man eine Stadt? Was erzählen uns die Straßen? Was die Häuser und die Parkplätze? Nichts? Vielleicht schweigen sie ja nur zu laut. Sie ruhen in Beton, bröckelndem Mörtel und Blech. Ansonsten lärmt es. Aber wir hören nichts mehr. Welche Schicksale rascheln in den sauren Blättern der letzten Allee? So still.
Mancheiner ist froh, den Ort zu verlassen, an dem er geboren wurde. Er zieht hinaus in die Weite der Welt.
Andere bleiben ihr Leben lang bis sie von der Welt verschwinden, die sie zu erkunden nie gereizt hat. Manchmal verschwindet ihnen darüber die Welt. Sie nehmen sie nicht mehr "wahr". Sie wird ihnen klein. Die "große Welt" kommt selten einmal zu ihnen. Und wenn, kann sie ihnen "gestohlen bleiben".
Aber egal, wie es auch sei beim Weg durch ein Leben, der häufig genug "Karriere" genannt wird, oder beim Zurückgezogensein: Am Ende sind alle Teil "einer" Welt, ob wir sie mit offenen Augen sehen wollen oder nicht. Nur ergeben die Teile kein Ganzes. Denn das Ganze ist nicht erst eine Summe. Es ist bereits in jedem Teil.

Das ist schwer zu verstehen. Aber vielleicht ist es leichter zu fühlen. Lebensgefühle erlauben, wenn Menschen ihre Heimat in sich gefunden haben (statt einen Ort, den sie "Heimat" nennen), Leben zu fühlen und Gefühle zu leben. Die Welt ist dann nicht mehr egal.
Denn der Mensch ist die Menschen, wie der Dichter Octavio Paz angesichts der "Massen" in Indien erkannte. Ausgerechnet im Gewimmel und Gewirr nahm er den Einzelnen und seine Bedeutung wahr.
Der Philosoph Jean-Paul Sartre bemerkte bei seinem ersten Amerika-Besuch in den Fünfzigerjahren die Weite des Himmels ausgerechnet an den Wolkenkratzern, die den Horizont begrenzten. Sein Blick war die Weite der französischen Provinz gewohnt. Hier konnte er die Wurzeln der Stadt erst durch das Sehen nach oben erkennen. Beim Blick zum Beton als Himmelsgrenze erkannte Sartre das irdische Menschensein – und nicht das im Himmel lockende Paradies. Das Land der Freiheit war leichter zu sehen, wo der Blick die Begrenzungen zeigte.

Anders ist es, wenn Menschen sich selbst nicht sicher sind und Schutz suchen vor den Anderen und dem Anderen. Dann wird "Heimat" schnell zur Provinz. Die Welt wird zum Schlachtfeld. Sie beginnt mit einer "Befreiten Zone", wird mit "Konzentrationslagern" fortgesetzt und endet im "Triumph" des schwachen, aber großsprecherischen Willens zur allgemeinen Vernichtung. Ein deutscher Traum wie ihn die Welt zweimal im vergangenen Jahrhundert erleben musste.
Von all dem handeln die im Essayband "Nirwana der Nichtse" abgedruckten Geschichten im guten wie im schlechten Sinne, auch wenn sie zunächst nicht danach klingen. Sie erzählen scheinbar "nur" von einem kleinen Ort irgendwo. Und den Menschen, die ihn bewohnbar machen. Oder denen, die ihn zerstören mögen. Die Banalität des Bösen fällt an solchem Ort weniger auf, weil die Banalität der Bösen zum Alltag der Guten geworden ist.
Sie müssen einander nicht einmal begegnen. So groß ist die Welt, dass man sogar nebeneinander wohnen kann ohne es zu bemerken. Sagen wir einmal: In der Marienstraße. So groß ist die Welt selbst dort, wo sie scheinbar so klein ist wie jene schmucklosen Häuser, die wie bunte Schuhkartons die Leben kästeln. So groß selbst dort, wo sie sehr, sehr klein, ja kleinlich wirkt.

Kann eine Wohnung «böse» sein?", fragte beispielsweise das Harburger Wochenblatt am 23. Oktober 2002 (38. Jg., Nr. 43). Die lokale Anzeigenzeitung betitelte ein Jahr nach den Anschlägen vom "9. 11." einen Beitrag so: "Marienstraße 54: Künstler planen Projekt in Terroristenwohnung – Politiker nicht begeistert". Eine "Berliner Künstlergruppe" mit dem Namen Marienstraße 54 space clearing wurde in dem Lokalbericht dürr vorgestellt. Diese habe angeblich "die Reinigung des Raumes im spirituellen Sinn" zum Ziel. "Anhand von Dokumentarfilmen, Installationen und Theater" sollten dabei "die Besucher mit ihren eigenen Ängsten und Fantasien konfrontiert" werden und somit "ihre voyeuristischen Impulse überwinden". Das Harburger Wochenblatt fasst erste "politische" Reaktionen so zusammen:
»Harburgs Politiker zeigen sich nicht unbedingt begeistert von dieser Idee. "Wir brauchen nicht noch mehr negative Werbung für diese Wohnung", sagt Jürgen Heimath, SPD-Chef aus Harburg. Er kann sich vorstellen, dass die zukünftigen Mieter weniger die Vorgeschichte abschreckt, als vielmehr die Tatsache, "dass die Presse jeden Tag vor der Tür steht". Auch CDU-Chefin Lydia Fischer zögert: "Wir können diese Wohnung nicht aus der Zeitgeschichte nehmen. Vorstellen kann ich mir jedoch, dass die Räume zukünftig einen musealen Charakter erhalten, dass hier Dokumente dieser menschenverachtenden Geschehnisse gezeigt werden." Zwiespältig äußert sich Heinke Ehlers von der GAL. Zum einen gelte zwar die Freiheit der Kunst, zum anderen "sollte aber im Interesse der Leute, die dort wohnen, endlich Ruhe einkehren."«
Das "Reich des Bösen" liegt scheinbar weit, sehr weit weg. Fern, so fern, dass eine solche Frage aufkeimt wie die, ob die Gegenwart sich "aus der Zeitgeschichte" nehmen könnte? Eine Zeitreise womöglich also, an deren Ende jedenfalls "die Presse" schlimmer als "die Terroristen" dastünde und "endlich Ruhe einkehren" könnte. Da bekäme eine Wohnung keinen "musealen Charakter", sondern wäre geradezu ein Schrein abgöttischer "Normalität". Ruhe. Endlich.
Die Harburger Woche, ebenfalls ein kostenloses Anzeigenblatt mit hoher Auflage, meldete am Sonnabend, den 22. Februar 2003, in der Rubrik "Total lokal" auf Seite 5 unter der Überschrift "Terrorprozess":
"Lebenslänglich – so lautet das Urteil gegen den in Harburg lebenden Mounir El Motassadeq. Das Gericht war davon überzeugt, dass der Marokkaner der Beihilfe zum Mord in mehr als 3.000 Fällen schuldig ist. Dem 28-jährigen Motassadeq, der bis zu seiner Verhaftung in der Harburger Goeschenstraße lebte, wird außerdem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Auch das nahmen die Richter in ihren Schuldspruch auf."
Gleich darunter findet sich ein Beitrag mit der Überschrift "Terrorwohnung":
"Seit bereits zwei Monaten ist die ursprüngliche "Terrorwohnung" in der Marienstraße 54, in der Terrorpilot Mohammed Atta lebte, wieder vermietet. Zwei junge Männer (22 und 27 Jahre) haben sich in der weltweit bekannten Dreizimmerwohnung häuslich niedergelassen. Die Wohnung wurde vorher renoviert und neuer Laminatboden verlegt. Die monatliche Miete liegt bei rund 470 Euro warm."
Darunter ist von "Karneval" und "Skat für alle" zu lesen. So ist "das Böse" jedenfalls kleiner als der riesige Schrecken, den es auslöst. Auf zwei junge Männer, die mit kleinen Teppich-Messern zwei Flugzeuge in ihre Gewalt brachten und ins WTC lenkten, folgten zwei junge Männer, die sich auf Laminat "häuslich einrichten". Da braucht es keine Teppichmesser mehr. Was wird nach einer solchen "Renovierung", nach einer solchen spirituell-anstreicherischen Reinigung, noch an "den Terror" erinnern? Wenn der Teppich entzogen ist?

Zeigt dieses Beispiel nur "Provinz"? Sind das nichtige "Nachrichten" aus einem wieder vergessenen Nichts? Auch auf der anderen Seite der Welt kehrt wieder mediale Gewissheit ein. Hier wird in weltbekannten Zeitungen "erinnert". Die Stadt New York habe "nach US-Medienberichten" entschieden, "dass ein Entwurf des Architekten Daniel Libeskind an der Stelle des zerstörten World Trade Center realisiert werden soll". Das meldete der auf Seriosität bedachte Deutschlandfunk am 27. Februar 2003 ohne weitere Quellenangabe in seinen leider häufig haarsträubend getexteten "Nachrichten". Die "Neubebauung" solle "mehr als 500 Meter" hoch werden. Libeskind wolle darin "auch eine Gedenkstätte integrieren, die an die Opfer der Terroranschläge vom 11. September erinnern soll". Die dreizeilige Meldung zu einem Memorial schließt:
"Der aus Polen stammende und in den USA lebende Architekt hat auch das Gebäude des Jüdischen Museums in Berlin entworfen."
Der eine "renoviert", der andere "integriert". Es gibt eine "Terrorwohnung" und eine "Neubebauung". Die Einen wollen, dass deutsche Mieter endlich in Ruhe wohnen können. Die anderen haben sogar mal ein Jüdisches Museum entworfen – was auch nichts mit "Terrorpiloten" zu tun hat. Die einen kommen aus Harburg und blieben in Harburg; andere "stammen" aus Polen und "leben" dennoch in den USA, wo sie ja wohl, wenn es eigens so betont wird, gar nicht hingehören, sondern nach Polen. Beides muss, diesseits und jenseits des Atlantiks, anscheinend mal deutlich gesagt werden, wenn es um internationalen Terror geht. Aber was wird mit beidem ausgedrückt?
Vielleicht ist es eine ganz einfache Botschaft: Alles lässt sich im Leben meistern, wenn man nur genügend handwerklich begabt ist. Neue Tapeten und ein Gesellenstück reichen. Selbst in der Fremde. Selbst unter Fremden.
Wenn da nur nicht dies ungesagte oder verwunden umsagte andere bliebe: Diese Ungewissheit! "Mitten unter uns" sei "das Böse", raunten "Staatsmänner". Nur wir sind es nicht. So böse ist das Böse aus "unserer Mitte", dass wir es gleich verstehen und darüber noch mehr schweigen als vordem. So fern ist uns dies Vertraute, dass wir es am liebsten fern sehen – im Fernsehen. Aber nur so nahe lassen wir es uns beim Fernsehen kommen, dass wir es uns gerade noch fernhalten können. Obwohl es direkt neben uns ist – mit uns gewohnt, gelebt, gelacht und gedacht hat. Wir verstehen es nicht. Einfach nicht. Das Fern-Sehen hilft zu vergessen.


Die Geschichten, die beispielsweise in "Nirwana der Nichtse. Ortskunde" niedergeschrieben sind, erzählen aus dem Alltag. Sie berichten vom sonst kaum bemerkten Fluss der Zeit. Aus dem lugen sie wie unbedeutende Steine. Mal sind diese Geschichtchen längst vergangen und weggerollt, mal werden sie erst heute gänzlich sichtbar. Mal wirkt Vergangenes plötzlich gegenwärtig. Die Gegenwart klingt ein anderes Mal für einen Moment vergangen oder zumindest vergänglich. So wird sie sonst kaum "wahr" genommen. Erst wenn Vergangenes wie gegenwärtig daherkommt, wird die Form manchmal eins mit dem Erzählten. Doch wie ewig ist die Gegenwart, die wir kaum noch spüren? Was sagt ein Text noch? Und wie lange. Zumal, wenn er in der Schublade harrte, um wieder und neu gelesen zu werden? Mit dem Wissen, was weiter geschah., wo sich Teile zu etwas ganz Anderem oder Neuem fügten.

Diese Geschichten handeln zwar vom Alltag – von dem, was wir gerne hinter den Routinen sähen oder uns lieber nicht wünschen würden, weil es den Alltag verneint: Weil es Ausnahmen und doch zugleich Allgemeinheiten sind. Also geht es auch um "das Normale" und das Besondere darin, um den Punkt, an dem ein gewöhnliches Leben zum Außergewöhnlichen wird – und sei es nur für Sekunden oder Stunden, Tage und Wochen. Wir müssen uns nur erinnern.
Es geht um die Landkarte des Lebens, auf der keineswegs nur an den Rändern sich Abgründe auftun. Dabei ist dies keine weitere "Topographie des Terrors". So wird seit Jahren ein Ausstellungsprojekt in Berlin annonciert. Es könnte ausgerechnet an der Engstirnigkeit von Verwaltung und Politikern noch scheitern.
Es ist keine Topographie, sondern allenfalls eine Ortskunde. Auch wenn der Terror in jener kleinen Welt zuhause war wie all jene, von denen nun die Rede sein wird und die in der "Marienstraße" oder drumherum wohnen oder wohnten, zuhause in Harburg, einem Ort wie Millionen andere, an denen die Welt jeden Tag neu entsteht, einem so wie Meßkirch, Obersalzberg, Poona oder Seveso.
Es ist eher das, was Kingsley Amis 1961 über die "Science Fiction"-Stories sagte: Sie seien "New Maps of Hell", Landkarten der Hölle, in die wir zu fahren drohen. Diese zu vermessen, diene unserer Orientierung. Der Unterschied ist, dass wir es "nach dem 11. September" nicht mit "Science Fiction" zu tun haben, sondern einer überdrehten Wirklichkeit, die schon selbst zur Hölle geworden ist.
Aus ihr entfliehen die beton-umfriedeten Menschen in einen Himmel: Die einen als selbst ernannte "Märtyrer", deren Familien dafür mit Rente von terroristischen Organisationen wie der PLO Arafats oder der Hamas besoldet werden. Die anderen, die auch nichts mit der Welt zu tun haben wollen, ziehen sich in eine nichts bedeutende, nichts sagende Welt der Nichtse zurück. Beide haben sich bereits aufgegeben.
Wer in dieser Welt, in der alle Seiten unbemerkt nebeneinander leben wollen als wären sie ein lange verheiratetes Paar, etwas sagt und zu sagen hat, der versucht, die Landkarte neu zu zeichnen – nicht in der Zukunft, sondern jetzt.

Dieser Essay erschien 2005 als eines der einleitenden Kapitel zu dem medien-kritischen Gedankengang "Nirwana der Nichtse. Ortskunde" (S. 41 - 45) durch einen Hamburger Stadtteil, der plötztlich weltweit bedeutsam wurde durch die Terroranschläge vom "11.9.". Näheres zu dem Essayband erfahren Sie hier.

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Die verlorene Heimat ....

Von einem , der vor Gericht ständig "Bedarf" an seiner Wohnung geltend machte und einem, der darin wohnte

Rainer B. Jogschies über die Zivilität der Gesellschaft im Kleinen ...


Der Blick aus dem Sprossenfenster in den Innenhof ist getrübt. Zwar reicht er weit. Aber zu weit. Da liegt unübersehbar eine umgebrochene und sodann planierte Erdebene. Dahinter könnte es abfallen ins All.
Nur die Erinnerung reicht über diese Kante. Da standen gestern noch zwei Pflaumenbäumchen, die erste Früchte trugen. Da wuchs ein kleiner Birkenhain bis in Dachhöhe. Eine Fliederhecke säumte den Rasen und die Rabatten. Nun lugt in einigen Ecken noch der umgepflügte Rasen hervor. Sogar der Wein, der um die Fenster bis in den ersten Stock rankte, ist vom Haus gerissen. Es steht nackt da. Die dunkel rußigen Verletzungen des Weltkrieges sind auf dem bröckelnden Putz wieder zu sehen.
So hat es der Vermieter veranlasst. Dem mehrmaligen "Schützenkönig" war der Garten "zu ungepflegt". Wir "leben nicht im Bolschewismus", sagt er. Er muss es wissen. Denn er ist als junger Mann "nach Russland gezogen", wie er gerne immer wieder erzählt.
Und "die Bolschewisten" sind ja wohl ungepflegt. Das zumindest weiß man in Deutschland.
Er könne doch mit seinem Eigentum machen, was er wolle, schnauzt er.
Es ist sein Eigentum. Nicht nur das Haus. Auch das, was in die Erde eingebracht wird, ist ab dann sein Eigentum. Laut Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB).
Nur die Mieter sind noch nicht sein Eigentum. Aber sie dürfen jedenfalls nicht einfach pflanzen, was sie wollen, bloß um es nach hinten raus wie in der Natur zu haben, um Heimfeld, die stinkenden Fabriken im nahen Harburger Hafen und überhaupt die lärmende Welt drumherum zu vergessen.
Denn die Welt kommt auch in diesen Garten. Da können die umliegenden Häuser noch so hoch sein. Gestern kam sie sogar in Uniform, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Nein, sagt der Polizist. Wenn einer Bäume fällen lasse, die er gar nicht gepflanzt habe, könne der das wohl so machen.
Naja, sagt der ebenfalls herbeigerufene Gartenbauamtsleiter. Man müsse mal die Stammdicke messen; ob der Eigentümer dann nicht eventuell, womöglich doch noch eine "Fällgenehmigung" brauche, von ihm, dem Amtsleiter. Ihn nennen die vom Fällen solchermaßen abgehaltenen "Gartenbauer" hinter vorgehaltener Hand den "Grünen Ayatollah", eben so einer im Geiste wie Chomeini.
"Nein", sagt Antje, "ich kette mich hier an, wenn der Baum umgelegt wird."
Am liebsten würde der Vermieter gleich alles rausreißen. Auch Mieter, die ihm solchen "Ärger machen". Doch da kann er keine Axt anlegen.
Es gibt da noch ein paar Rechtsprobleme. "Früher war das anders," sagt er gerne. Schon zweimal hat der Vermieter "fristgerecht gekündigt". Die Axt ist stumpf. Sie fällt nicht. Sie schneidet nur tief.
Der Vermieter prahlt gerne mit seinem Eigentum. Er sei stolz, "einige Wohnungen «mein eigen» nennen zu dürfen und etliche hundert Wohnungen in der Verwaltung" zu haben.
Herr Gerhard A. ist nämlich Makler. Sein Name prangt deshalb auf dem Rücken des "Örtlichen Telefonbuches". Er leuchtet auch von einem Neonschild auf einem Büroklotz am "Innenstadtring", gleich neben der "Einkaufszone". Wir leben ja nicht im Bolschewismus.
Jeder hat seine Bedürfnisse. Auch ein Vermieter. Herr A. beispielsweise hat "Eigenbedarf". Und das schon länger. Und immer wieder.

Beim ersten Mal, 1978, war es noch schwierig für ihn. Das Harburger Amtsgericht wollte "Gründe" hören. So stand es im sozialdemokratischen Reformgesetz, das einen "Mieterschutz" versprach. Ein Eigentümer sollte Mieter nicht einfach nach Belieben auf die Straße setzen dürfen. Es sollte schon ein wenig gesittet zugehen.
Aber Gründe gibt es im Leben immer. Sein Sohn Wolfgang, "Junior" genannt, wolle sich "selbständig" machen. Da wolle der Vater mit einer "preiswerten" Wohnung "zum Start" helfen. Die anderen sechs Wohnungen im Haus oder die hunderte in anderen Häusern kämen nicht in Frage. Da seien die Mieten viel höher. Nur dieser eine Mieter da, der habe sich immer gegen seine "Mieterhöhungsbegehren" widersetzt. Da waren ihm sogar schon mehrere Prozesse verlorengegangen. Der Mieter zahle nach so viel Ärger doch noch nicht einmal soviel, dass die Kosten reinkämen. Und Sohn Wolfgang könne sich gerade mal so eine Wohnung leisten.
Glück gehabt, dass einer seinen Vater von maßlosen Mieterhöhungen abgehalten hatte! Außerdem brauche "der Junior" mehr Platz als in seinem Reihenhaus am Stadtrand. Schließlich wolle er "eine Familie gründen". Der renitente Mieter hingegen sei bloß ledig. Und dass dessen Freundin inzwischen bei ihm wohne, sei ohnehin zumindest moralisch nicht statthaft – rechtlich leider schon. Denn Herr A. hatte bei ihrem Einzug "fristlos" gekündigt, weil seine "Zustimmung" für diese Unsitte nicht vorliege. Möglicherweise handele es sich um unerlaubte "Untervermietung". Die "Wohnsubstanz" könne "Schaden nehmen". Nein, ein unmittelbar bevorstehender Studienabschluss des Mieters und auch seiner Freundin könne "kein Grund" sein, auf eine "augenblickliche Kündigung zu verzichten". Es sei dem Mieter nämlich "durchaus zuzumuten", mit dem Vorortszug täglich eine Dreiviertelstunde in die Hamburger Innenstadt zu fahren, um in den Arbeitsräumen der Universität statt zu Hause in Harburg zu lernen, und danach eine Dreiviertelstunde zurück.
Der Richter prüfte den "Eigenbedarf" des Herrn A. wohlwollend. Schnippisch fragte er allerdings, ob denn nicht kürzlich gerade "der Junior" da vor seinem Amtstisch gestanden habe – mit der Prokura der väterlichen Firma ausgestattet? Da sei die Gründung einer eigenständigen Existenz wohl noch sehr vage. Auch sei die "Familiengründung augenscheinlich" angesichts dessen ranker Gattin "noch nicht sehr fortgeschritten". Die Klage sei daher vorerst abzuweisen.

Vorerst. Die Welt ändert sich. Die Frau des Herrn A. war bald danach verstorben. Er hatte eine neue geheiratet. Wolfgang arbeitete immer noch in der Firma seines Vaters. Sein Reihenhaus hatte er gegen ein komfortableres Bauernhaus am Harburger Stadtrand getauscht. Nur die Familiengründung kam nicht recht voran. Der Mieter war inzwischen diplomiert und promoviert. Die Freundin war längst ausgezogen. Nun wohnte Antje mit ihm und lehrte ihn die Liebe zum Garten.
Und was die Welt nicht ändert, ändern die Gesetze. In Bonn regierten plötzlich seit 1982 Christdemokraten, nachdem die "Liberalen" einfach ihr Bündnis mit den Sozialdemokraten aufgekündigt und sich mit Helmut Kohls Getreuen heimlich verabredet hatten. Man ignorierte das Votum der Wähler und tauschte mitten in der Legislaturperiode den Kanzler aus.
Nachdem der Unmut über derlei Tun anhielt, beantragte Helmut Kohl später ein "Misstrauensvotum" gegen sich selber, um "den Weg für Neuwahlen frei zu machen". Tatsächlich wurde er weder von den verbündeten Liberalen noch von seinen eigenen Christdemokraten im Amt bestätigt. Man muss immer nur wissen, wie gerade der Bedarf ist. Es musste also "neu" gewählt werden, weil ihrem Gewissen verpflichtete Abgeordnete einem vertrauten, dem sie gerade "das Misstrauen aussprachen". Wir leben ja nicht im Bolschewismus.
Der Wähler nahm‘s nicht krumm. Endlich kamen die "Sozis" weg, die nach der überwiegend veröffentlichten Meinung mit ihren "sozialistischen Ideen" der Wirtschaft so "schweren Schaden" zugefügt hätten. Endlich konnten auch die "Mietgesetze" wieder "liberalisiert" werden, um den "Wohnungsmarkt" zu entspannen.
Da war er dann wieder: Der Eigenbedarf. Beim zweiten Mal, zehn Jahre später, lächelte Herr A. siegesfroh. Es gab erste vermieterfreundliche Freibriefe von hohen Richtern. Das "Hanseatische Oberlandesgericht" hatte beispielsweise Verständnis, dass die bloße Behauptung von "Eigenbedarf" als ausreichend für einen "Räumungsbeschluss" anzusehen sei.
Ein Amtsrichter in Harburg ignorierte solchen allgemeinen Willen der oberen Richter zunächst. Er wolle mal konkrete Argumente für den "Eigenbedarf" hören, mal so informationshalber. Er hörte und glaubte gleich: Stiefsohn Eberhard studiere in Harburg, an der Technischen Universität. Er stehe kurz vor dem Abschluss. Da sei ihm die tägliche Anfahrt aus der Hamburger Innenstadt nach Harburg nicht zuzumuten. Überdies benötige er eine größere Wohnung, weil er mit seiner Freundin zusammenziehen wolle. Es half keine Gegenrede. Beispielsweise, dass der Stiefsohn bereits zu seiner Freundin nach St. Georg gezogen war und nun unmittelbar an jener neugebauten S-Bahn wohne, die inzwischen vom Hauptbahnhof in einer Viertelstunde direkt zur Universität führe. Oder dass er die benötigte Wohnung selber noch nie gesehen habe und ja auch nicht in eine grundrissgleiche einziehen wolle, die im Haus gerade frei werde.
An Weihnachten erging "Im Namen des Volkes" ein Urteil, dass die Wohnung nach über dreizehn Jahren Mietdauer binnen weniger Tage zu räumen sei.
Der Anwalt des Mieters konnte wenig Mut machen. Mit einer "Sprungrevision" vor das Oberlandesgericht sei zumindest "noch ein wenig Zeit" zu gewinnen. Der Prozess werde allenfalls der Wohnungssuche den Stress nehmen.

Doch es kam anders. Die nächsten Richter verstanden angesichts des drängenden "Eigenbedarfs" nicht, wieso denn weder Sohn noch Stiefsohn in die mittlerweile "frei" gewordene Wohnung im Haus eingezogen seien und sie stattdessen in anderen Wohnungen woanders gut lebten. Sie wollten wissen, warum die Kinder eines mehrfachen Millionärs denn solche Not litten.
Das Urteil wurde aufgehoben. Der Mieter durfte bleiben. Der Garten dann nicht.

Es war nur ein weiteres Urteil von vielen, zwischendurch. Denn auch Prozesse, die eine "Zustimmung" zu einem "Modernisierungsverlangen" erwirken sollten oder mehrere wegen angeblicher "Mietrückstände", die sich durch das "Nichtbeheben angezeigter Mängel" ergeben hatten, waren abzuschließen.
Mittlerweile waren beim Mieter sogar Vertreter der Allianz-Rechtschutzversicherung erschienen und hatten ultimativ eine drastische Erhöhung der Police verlangt, weil "zu häufig prozessiert" werde – egal, dass der Vermieter ihn so häufig verklagt hatte und dass die Verfahren letztlich gut für den Mieter ausgegangen waren.
Der so oft Beklagte sei ein "rebellischer Mieter", schrieb ihm der Makler A. einmal zwischen den Prozessen. Den grämte das nicht so sehr. Nur war ihm der alltägliche Ärger zuwider.
Denn der Vermieter schickte ihm auch einen Privatdetektiv hinterher, um dessen "Einkommensverhältnisse" und die "politische Meinung" erkunden zu lassen. "Gewinnt alle Prozesse", stand missmutig auf der alsbald angelegten Ausforschungsakte, die Gesprächsnotizen mit Nachbarn und Beobachtungsprotokolle enthielt. Der Eigentümer Herr A. schickte auch seine Schützenbrüder, mal in der Rolle als Klempner oder mal als Zimmerleute ins Haus, die später vor Gericht bekundeten, in der "strittigen" Wohnung gäbe es "übermäßige Pflanzenhaltung", weshalb "die Wände schimmelten".

Im Garten hinterm Haus gibt es seit 1989 jedenfalls keine übermäßige Pflanzenhaltung mehr. Jemand, der nach Rußland gezogen ist, weiß, wie flach Land schon mit ein bisschen roher Gewalt werden kann. Was nach dem Krieg mit der grundgesetzlich garantierten "Unverletzlichkeit der Wohnung" und der "Sozialbindung des Eigentums" gemeint war, weiß er auch. Sie gelten bis zum "Eigenbedarf". So frei ist ein Mieter. Eine Wohnung ist nur "frei", wenn der Mieter aus dem Weg ist.

Nachworte

Ein Teil dieser Geschichte war in "Von den Eigenheiten des Wohnungsbedarfs" nach einem vermieterfreundlichen Urteil des "Bundesverfassungsgerichts" auf der Seite "Inland aktuell" in der tageszeitung auf Seite 5 am 15. Februar 1989 zu lesen.

Mittlerweile sind im Haus mit den Jahren noch oft Wohnungen in jeder Größe frei geworden. In 2004 stand das zweite Geschoss des Hauses monatelang komplett leer. Doch trotz des gerichtsbekannten "Eigenbedarfs" scheuten Wolfgang und Eberhard bisher den Umzug. Als zum Sommer 2005 wieder Wohnungen frei wurden, trat der Junior vielmehr als Makler auf, der Honorar für die Vermittlung der Wohnung erbat, für die dann wohl kein Eigenbedarf für ihn und andere Anverwandte mehr besteht.

Der Makler A. genießt seinen Lebensabend, wenn er nicht gerade beispielsweise die "Zustimmung" seines Mieters rechtlich durchsetzen will, einen seiner Schützenbrüder überteuert die modernisierte Heizung warten zu lassen. Im April 2005 "mahnte" er den Mieter ab, weil Efeu an der Hauswand hochkrabbelte.

Der Garten blühte einige Jahre wieder üppig mit Vergißmeinnicht, Flieder, Ginster und Rhododendren. Einer der umgelegten Obstbäume hat seine notdürftige Verfrachtung ins Wendland gut überstanden und trägt heute reiche Ernte.

Doch in 2006 begann der Terror erneut: Der Makler A. reichte im Namen seiner Gattin Klage ein, weil der Mieter die Wohnung nach seinem Wissen vernachlässigt habe – er müsse das gemeinsam mit einem Gutachter besichtigen, um größere Schäden zu verhindern. Da er bekannte, dass er nur den Auszug des Mieters wollte, schlug die Richterin einen "Vergleich" vor: Er dürfe mit Gutachter die wiederum behaupteten Schäden und Mängel registrieren, doch solle er ein Angebot für die Kostenübernahme des von ihm angestrebten Auszugs unterbreiten. Die "Parteien" willigten ein. Der Gutachter kam und fand erneut nichts. Das gerichtlich vereinbarte Angebot blieb indessen aus – er wisse gar nicht, warum er eines machen solle, ließ er über die Neugrabener Anwaltskanzlei mitteilen, die über ein Jahrzehnt den Mieter verteidigt hatte gegen die Übergriffe und nun ungeniert auf der Gegenseite stand und sich nicht scheute, den von ihr geschlossenen Vergleich zu ignorieren.

Im Frühjahr 2007 kamen dann wieder Motorsägen, wieder ohne Genehmigung. Sie vollendeten die Zerstörung. Ein "Hausmeisterpärchen" rupfte ohne nachzufragen Pflanzen aus dem Boden und warf sie weg – man mache nur, was der Vermieter sage.
Mit solchen Menschen lässt es sich wieder nach Russland ziehen.

Dieser Bericht erschien 2005 als eine der beispielhaft herangezogenen Beobachtungen zu dem medien-kritischen Gedankengang "Nirwana der Nichtse. Ortskunde" (S. 154 - 158) durch einen Hamburger Stadtteil, der plötztlich weltweit bedeutsam wurde durch die Terroranschläge vom "11.9.". Näheres zu dem Essayband erfahren Sie hier.

Einige Essays - nämlich auf Vorträge zurückgehende - finden Sie auch hier. Sie führen die in diesen Texten dargelegten Gedankengänge und Zusammenhänge weiter.

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