Hier finden Sie Artikel aus drei Jahrzehnten Journalismus.
Aber finden Sie noch die Welt dazu? Wie schnell vergeht das Gelesene?
Es waren viele Artikel. Wahrscheinlich sogar zu viele. Denn Journalisten, zumal "freie", finden kaum Zeit, sich allein einem einzigen Thema zu widmen. Gleichwohl gibt es Themen, die auch beim rasendsten Reporter abgewandelt immer wiederkehren. Deshalb, darob, drum und rundheraus ist hier nur eine kleine Auswahl nachzulesen von was auch immer - einfach so, ohne ein bestimmtes System wahrscheinlich (außer der Spiegelung der merkwürdigen Moden im Mediengeschehen).
Sie finden aber, wenn Sie mögen und möchten, eine kleine Ordnung in den ausgewählten sieben Glossen und Berichten, die - naja - unter anderem versuchen, die Eiligkeit der Berichterstattung aufs rechte Maß zu stutzen. Bitte nehmen Sie sich dazu die Zeit ...
Wie sagt man etwas ohne etwas zu sagen? Sozusagen geht es am besten. Eine Sprachglosse über ein verbreitetes Füllsel.
Wie sagt es die Kanzlerin? Hat sie nichts zu sagen? Eine Sprachkritik über eine Amtssprache.
Wie sagt man es kommenden Generationen, was man ihnen hinterlassen wird? Eine Medienkritik für die Zeit der Müllnachrichten ...
Die Waren sind alle schön. Aber sind sie das Wahre? Eine Erinnerung an die Kritik der "Warenästhetik". Hallo!?
Eine Erinnerung an diejenigen, die in den Siebzigern und Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts Kulturpolitik in Deutschland als Personen gestalten wollten - bevor die Event-Freaks Oberhand gewannen...
Ein Bericht über zwei Tagungen und den Mißstand, dass Journalisten nicht mehr ernst genommen werden. Schluchzen sie.
Ein Bericht über drei gerade vergangene Jahrzehnte, in denen aus "politischen Menschen" Misstrauensgestörte wurden und Politiker nicht mehr ernst genommen wurden. Woher kommt bloß die "Politikverdrossenheit"?
Ein Abschied von der selbst-ernannten Parteien-"Alternative": Der Partei der Parteigegner, "Die Grünen". Und tschüß.
nach oben
Die zentrale Aussage der Zeit - von daher, bis hierhin, so weit ...
Rainer B. Jogschies ist angesteckt von einem sanften Füllsel
Seit kurzem sage ich auch „sozusagen“. Auch mir geht es jetzt gut von der Zunge. Es ist wie ein Virus. Einer niest. Und alle sagen statt „Gesundheit“ lieber „sozusagen“. Auch wenn es genauso wenig nutzt. Bald niesen auch sie dann ein fröhliches „sozusagen“ in die Runde.
Bei mir fing es damit an, dass ein verdienter Gewerkschaftskollege Mitte der Neunzigerjahre auf einer ehrenwerten Mitgliederversammlung wie so oft das Wort ergriff. Er hatte nichts zu sagen, dies aber ungewohnt anders. Alles sollte anders werden. Aus der Industriegewerkschaft Medien würde ver.di. Er schaffte es, binnen fünf Minuten 38 Mal „sozusagen“ zu sagen.
Es war sozusagen seine und die zentrale Aussage der Zeit. Denn nun wussten alle, dass das, was er gesagt hatte, nicht das war, was er gemeint hatte. Für das, was er gemeint hatte, fehlten ihm die Worte. So unbeschreiblich war das offenbar. Wer kann es wissen? Kollege hin, Gewerkschaft her. Deshalb war es in einfachen Worten wohl nicht „zu sagen“, sondern nur etwas, was „so“ nicht ganz stimmte, aber zumindest den unsagbaren Kern traf. Das klang dann zwar ein wenig unbestimmt. Aber das mit 38-facher Bestimmtheit!
Noch ein paar Jahre zuvor hatte derselbe Kollege stattdessen gesagt, was er „eigentlich“ meinte. Und deshalb auch eigentlich hatte sagen wollen, aber eben auch nicht ausdrücken konnte (oder mochte). Wohl auch wegen der unerhörten Komplexheit des zu Sagenden: „Eigentlich wollte ich hier mal sagen, dass es eigentlich so ist, dass es eigentlich ganz anders ist.“
Danach war im Kreis das kommunikative Rätseln aufregend, was eigentlich mit dem „eigentlich“ gemeint sei. Man ahnte „irgendwie“ und „ein Stück weit“ auch, dass es eigentlich ganz einfach gemeint und dennoch nicht gesagt war. Denn der gute Anstand habe es höchstvermutlich zumindest sprachlich geboten, nicht so direkt zur Sache zu kommen. Wer fällt schon gerne mit der Tür ins Haus? Oder tritt jemandem auf die Füße? Wenn es doch auch so umschrieben werden kann, dass eigentlich alle zufrieden sein können! Keiner fühlt sich dann überfallen oder bedrängt. Keiner weiß dann, was eigentlich gemeint ist. Aber alle denken sich ihren Teil. Sie müssen es notgedrungen.
Beim Wörtchen „sozusagen“ ist es eigentlich ähnlich. Nur dass der Sozusager hier ungleich sanfter klingt. Im Wörtchen „eigentlich“ steckt sozusagen immer auch die Drohung, dass man auch mal ganz „uneigentlich“ werden könne, wenn es sein müsse. Das bringt ja nichts. Wer eigentlich sowieso recht hat in einer drohendenden Auseinandersetzung, der zeigt das, indem er ganz „eigentlich“ sagt, was denn eigentlich ist. Da gibt es trotz der angedeuteten Offenheit für anderes, aber womöglich uneigentliches Denken kein Vertun!
Davor, am Anfang der Achtzigerjahre, sagten solche Denker der Eigentlich- und anderer Nettigkeiten noch „letztendlich“. Sie signalisierten damit das Ende der Debatte. Eher negativ gestimmte Menschen sagten sogar ab und an: „Schlussendlich kann ich sagen …“
Das ist vorbei, Aus, Schluss, endlich. Man bemüht sich inzwischen zumindest sprachlich, so zu tun, als würde man sozusagen bloß darauf warten, dass ein anderer noch etwas entgegnen möchte, ja, dass er sogar in das Gespräch einbezogen sei und man an der präziseren Formulierung des Sozugesagten, aber nicht Zugesagtem noch feilen könne.
Das ist allerdings etwas anderes als jenes „Ich sach mal“, das seit 1998 sozusagen regierungsamtlich das Vorwort zum „Basta“ wurde! Wer wie der Gerd „Ich sach mal“ sacht, der will nix mehr hören außer sich. Ansonsten müsste er ja nicht eigentlich sozusagen herrisch ankündigen: „Jetzt rede ich.“ Das hört man ja! „Ich sach mal“ klingt zudem freundlicher. Und auch so herrlich unbestimmt statt herrisch bestimmend. Als würden gerdische Gedanken gerade erst im Kopf entstehen. Der Redner wirft sie genialisch hin – und auch der Hörer kann noch mit „Ich sach mal“ antworten! Das ist gelebte, ach was gesagte Demokratie.
Es ist jedenfalls doch schon ganz etwas anderes als jenes unvergessene „Ich würde sagen“ der Siebzigerjahre unter Schmidt. Das signalisierte eine eher negative, geradezu zittrige und leicht dämliche Unbestimmtheit.
Eigentlich sollte sowieso niemand sagen, dass er etwas sagen „würde“, wenn er es damit bereits tut. Aber eben das wird getan, insbesondere von Menschen, die ebenso oft „eben“ einflechten: „Letztendlich wollte ich damit eben sagen, dass eigentlich eben alles dafür spricht, das eben sozusagen genau das zutrifft, was eben alle sagen.“
Genau dagegen und dabei hilft eben immer und überall das „sozusagen“ in Formvollendung, nämlich in rhetorischer Reinkultur. Heute gibt man sich eher positiv und sozusagen bestimmter, zumindest im Geist der Eigentlichkeit im Uneigentlichen. Es gibt sozusagen keine Alternativen mehr zum „sozusagen“, weder sprachlich, noch gedanklich und schon gar nicht gewerkschaftlich oder gesellschaftspolitisch.
Das „sozusagen“ muss allerdings längst nicht mehr bloß für eine bestimmte politische Denkweise des Letztendlichen auf der Welt sprechen, wenn man es denn überhaupt jemals dafür sprach (ohne etwas zu sagen). Seit Sportler quälend lange Interviewminuten in Hauptnachrichtensendung eingeräumt bekommen, warum wohl sie das Leder nicht im Netz versenkten oder auf Rasen wegen ihrer Magenverstimmung kein As gegen einen Sandplatzspezialisten durchbekamen, setzt sich der Virus Sozusagen geradezu epidemisch auch dort fort, wo auf offene Fragen des Weltgeschehens früher ein Beckersches „Okay, ich hab alles versucht, aber okay, es hat nicht geklappt“ ausreichen musste.
Man muss bloß hinhören. Es gibt derzeit allerorten wahre Großmeister des Sozusagen, die sozusagen immer wieder „sozusagen“ so sagen, als hätte es sozusagen niemand zuvor gehört. Das kommt recht rhythmisch und ermuntert sozusagen zu antworten mit einem fröhlichen „Sozusagen“-Kanon. Alle müssen da gleich einstimmen, also auch ich: Denn nur wer „sozusagen“ sagt, hat noch was zu sagen in einer medienkompetenten Gesellschaft, die sich sozusagen nichts sagt als „sozusagen“.
Diese Sprachglosse erschien in der Zeitschrift Kunst & Kultur (12 Jg.. Heft Nr. 5, Mai 2005). Der Autor, Rainer Jogschies, gab 1987 die Anthologie „Aus dem neuen Wörterbuch des Unmenschen“ heraus, mit Beiträgen von Heinz Galinski, Björn Engholm, Peter Gatter, Robert Jungk, Axel Eggebrecht, Henning Scherf, Franz Steinkühler, Wolfgang Schmidbauer, Dieter Baacke, Rio Reiser, -ky, Iring Fetscher, Karin Struck und anderen.
nach oben
Neues aus dem "Land der Ideen",
das neueste der neuen Bundesländer
Rainer B. Jogschies hat der Bundeskanzlerin hundert Tage zugehört.
Angela Merkel hat was zu sagen. Erst sagte sie, sie habe die Wahlen gewonnen. Aber da hielt Herr Schröder noch dagegen: Er habe gewonnen.
Na, Herr Schröder hat auch immer wieder gesagt: „Ich sach ma …“
Dieser Satz klang nie sehr bestimmt, eher irgendwie improvisiert. So wie Kandidaten bei Günter Jauchs Millionen-Raterei oft ohne rot zu werden sagen: Ich hab keine Ahnung – aba ich sach ma: C ist die Lösung.
Wumms, wieder ist Einer Millionär geworden! Pardautz ist wer anders als der Kanzleramtszaunrüttler Gerd der Kanzler.
Nun ist das letzte Wort gesprochen. Mann tippt noch dumpf www.bundeskanzler.de, um zu lesen, was die Frau Bundeskanzler so sagt, und schon korrigiert die Homepage in www.bundeskanzlerin.de. Alles anders heutzutage.
Aber da ist mehr drin als nur das „–in“. Frau Merkel sacht jedenfalls nich´ „Ich sach ma´.“ Sondern beispielsweise und in dieser Abfolge: „Wie ich denke, Ihnen allen möchte ich versichern, und ich sage – manches davon auch für mich – das heißt für mich konkret, ich finde, wie ich sage – das sei mir als Bewohnerin von Mecklenburg-Vorpommern gestattet zu sagen – gestatten Sie mir, diesen Satz heute zu ergänzen und uns zuzurufen, wir haben gesagt, ich weiß das, ich sage aber auch, wir tun das – ich wiederhole mich, ich sage unumwunden: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich bin davon überzeugt, ich sage hier sehr persönlich, ich sage auch ganz bewusst, das sage ich ausdrücklich …“
So hat sie dem Deutschen Bundestag am 30. November 2005 ihre Regierung „erklärt“.
Natürlich sagte sie dazwischen noch anderes. Doch die zitierten „Jetzt rede ich!“-Halbsätze zeigten gleich den neuen, non-schröderden Stil – vom schlaffen Ich hin zur „sehr persönlich“ Redenden. Das hat sie in allen Reden bis an den Rand des Verständlichen verfolgt. Was sie sagte, sagte sie „auch ganz bewusst“ – und nicht nur halb umnachtet. Sie sagte es „konkret“, „für“ sich jedenfalls – und nicht so verschwommen wie es klang. Sie sagte, was sie sagte, manchmal sogar „ausdrücklich“. Sagte sie.
Das politische Ich ist nicht länger näselnd, sondern gleich politisches Programm. Angela Merkel steht für sich und sagt es Absatz für Absatz.
Es ist keine eitle Rede. Sie versucht paradoxerweise den rhetorischen Radschlag: Damit auch alle aufmerken, kündigte sie alles, was sie sagte, an. Sie sagt damit bloß, was sie ohnehin sagen wird – das ist etwas anderes als jene Ankündigungspolitik, die der damaligen Regierung Schröder von der vorherigen Oppositionsführerin Merkel vorgeworfen wurde. Damit sagt sie ganz unausdrücklich, dass sie nichts zu sagen hat außer dass sie nun was zu sagen hat.
Ihre Reden kreisen ansonsten immer um dasselbe: die „Überraschung“. Frau Merkel ist „überrascht“, dass eine Frau „der Bundeskanzler“ wurde, von dem das Grundgesetz wenig geschlechtsneutral spricht. Die „größte Überraschung“ ihres Lebens aber ist das „Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter“. Noch vor 67!
Das soll die anderen anstecken: „Lassen Sie uns also alle damit überraschen, was wir in diesem Lande können,“ sagte sie – ebenso wie sie uns ankündigte, „uns zuzurufen“.
Von sich selbst völlig „überrascht“ zu sein, ist allerdings eine besondere Gabe. Da kann man wohl gar nicht anders, als sich selber „zuzurufen“, damit man nicht noch sich selbst überhört.
Das Ich wird zum Wir, wenn man sich so zuhört und sich selbst dabei überrascht.
Das ist das „Neue“ in Deutschland. Nimmt mal ein Pole nicht einen Arbeitsplatz weg – schon überraschen wir uns selbst, indem wir uns zurufen „Wir sind Papst!“ Und wer immer noch greint, dass es in Deutschland nicht mehr genügend Arbeit gäbe, dem sagen selbstgefällige Prominente nicht mehr „selber schuld“ wie noch vor kurzem, sondern rufen zu „Du bist Deutschland!“
Das bedeutet zwar dasselbe. Aber es klingt besser. Angie klingt auch. Das wussten schon die Rolling Stones, deren Song von einer – vorsichtig gesagt – unglücklichen Liebe zu einem Girl unmöglich „Angela“ oder Olga hätte heißen können. Er wurde zum rockigen Leitmotiv des CDU-Wahlkampfs mit dem „Mädchen“ des Kanzlers Kohl. Es war die Sound-Stimmung für den nächsten Slogan. Den spricht die Frau Kanzler nun ganz unbewußt uns vor: Du bist Angela Merkel!
Genau. Dann wird auf einmal alles einfach. Man muss nur Ideen haben!
„Wir sind eine Bildungsnation. Warum sollten wir nicht alle damit überraschen, was in diesem Land gelingen kann,“ fragte Frau Merkel noch in der Regierungserklärung – wen eigentlich? In ihrer „Neujahrsansprache“ an die „Bildungsnation“ wurde Frau Merkel wenig später noch konkreter: „Deutschland ist das Land der Ideen. Aber von unseren Ideen leben – das können wir nur, wenn wir sie auch in die Tat umsetzen. Überraschen wir uns damit, was möglich ist!“
Na also. Du bist arbeitslos und kein Millionär. Aber Du bist Günter Jauch!
Aber was für Ideen gibt es denn so im „Land der Ideen“? In der Neujahrsansprache vom 31.12.2005 erwähnte Frau Merkel beispielsweise: „Wir sollten uns an eine einfache Weisheit erinnern, sie lautet: Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit.“
Aber weil nicht nur wir das „sollten“, sondern die ganze Welt daran genesen könnte, „erinnerte“ sie nicht nur sich und uns, sondern wenig später am 25. Januar 2006 auch das „Weltwirtschaftsforum“ in Davos: „Ich werbe ich in meinem Land wieder und wieder für eine eigentlich alte Weisheit: Arbeit – das ist unser zentrales Problem in Deutschland – braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit.“
Weil aus einer „einfachen Weisheit“ schwerlich trotz „wieder und wieder“ Werbens binnen drei Wochen eine „eigentlich alte Weisheit“ wird, bedarf es Alter und Weiser. Die führte Frau Merkel an: „Ich habe auch noch an einen Amtsvorgänger gedacht, nämlich an den Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard. Er hat uns 1948 gesagt: "Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf der Ordnung."“
Zwar hat das der alte Erhard nicht „uns“ – mit unseren „zentralem Problem“ – gesagt. Frau Merkel beispielsweise war da noch gar nicht geboren. Erhard war 1948 auch kein Kanzler; „Amtsvorgänger“ wurde er erst 1963, als Adenauer am Mauerbau und seiner verstockten Wiedervereinigungspolitik gescheitert war. Ja, es gab 1948 noch nicht einmal die Bundesrepublik Deutschland. Aber immerhin hatte die West-CDU gerade ihr „Ahlener Programm“ verabschiedet, das Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, strenge Kartellgesetz und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer forderte.
Egal. Da sind im „Land der Ideen“ mit ihren Ideen-Vätern ja auch noch die Weisen. Frau Merkel „erinnert“ die Welt im Örtchen Davos an den Immanuel Kant und seinen "kategorischen Imperativ": Der habe „damals zum selbstbestimmten Umgang mit der menschlichen Freiheit aufgerufen“.
Die meisten Deutschen werden sich ja noch erinnern, wie Herr Kant 1788 die murrenden Königsberger aufrief: „Ich sach´ma´: Geht mit der menschlichen Freiheit man bloß selbstbestimmt um, okay?“
Wer nicht aus einer Bildungsnation stammt, müsste es freilich in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ nachlesen. Dort stünde allerdings nicht, was Frau Merkel im „Land der Ideen“ und beim Aprés-Ski daraus gemacht hat: „Kreativer Imperativ - das klingt vielleicht kompliziert, aber ich verstehe es einfach so: Es gibt in unserer Zeit die unbedingte Notwendigkeit – man kann fast sagen, den Zwang – zum Kreativen. Dies sollte eigentlich immer Triebkraft zumindest vernünftiger Politik sein, wenn ich für das spreche, für das ich zuständig bin. Aber ich glaube, dass heute mehr denn je gilt: Wer im Wettbewerb der Ideen besteht, der kann auch seine Zukunft gestalten, und das gilt für jeden in dieser Welt.“
Aber was „für jeden in dieser Welt“ und nicht in der nächsten gilt, muß in Deutschland noch lange nicht „zumindest vernünftige“ Politik werden, schon gar nicht in Kantschen Kategorien. Es ist viel einfacher, wenn man „für das, für das ich zuständig bin“, viel Worte macht. Nur mal zum Beispiel im „Wettbewerb der Ideen“, den die Tochter dem „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“ post mortem voraus hat: „Wenn ich von Neuer Sozialer Marktwirtschaft spreche, dann ruft dies in meinem Heimatland, in Deutschland, immer verschiedenste Diskussionen hervor. Es wird gefragt: "Ist das jetzt die Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft?" Das ist es natürlich nicht, sondern es ist das Bekenntnis dazu, in einer neuen Zeit zu sagen: Wir stehen vor der Herausforderung - dieser Herausforderung muss sich Politik stellen -, die Globalisierung zu gestalten. Die Ängste der Menschen rühren zum großen Teil daher, dass sie das Vertrauen darauf verloren haben, dass Politik die Folgen der Globalisierung gestalten kann. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass Politik auch in Zeiten der Globalisierung einen Gestaltungsauftrag hat.“
Was kann Deutschland nach hundert Tagen voller Reden mehr erwarten als eine Kanzlerin, die „überzeugt“ ist, einen „Gestaltungsauftrag“ zu haben – auch wenn „die Menschen“, zumal die Angsthasen unter ihnen, nicht glauben, dass sie etwas „gestalten“ könne. Was wissen „die Menschen“ schon, wenn ein höheres Wesen, zumal eine „Bewohnerin von Mecklenburg-Vorpommern“, einfach überraschend „gestaltet“, ob mit oder – wie der Herr Schröder meint – ohne Auftrag?
Kant konnte noch „kompliziert“ vom Bürger erwarten:„Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.” Das galt damals als „kategorischer Imperativ“ – bevor Angela Merkel ihn „kreativ“ deutete.
Wer Gesetzgebung als beauftragte Gestaltungsfrage sieht, hat zu vielen Designer-Philosophien gelauscht oder zuviel „Privatfernsehen“ gesehn. Deutschland sucht den Superstar und hat ihn gefunden: Angela Merkel. Sie sagt, was sie selbst am meisten überrascht. Da ist sie ganz wie Dieter Bohlen. Sie beide sind die Neuen Modern Talking.
Sie ist so schön, dass sie sich auf keinem Wahlplakat erkennte. Bei ihr wird das schlaffe Ich zum „sehr persönlich“ Redenden. Die performance stimmt. Das selbstbestimmte Ich wird zum innovativen Wir: „Wenn wir vom kreativen Imperativ sprechen, dann ist es natürlich von allergrößter Bedeutung, dass es uns gelingt, geistige Innovation auch wirklich vor Piraterie zu schützen.“
Gott schütze Deutschland vor Piraten und Piratinnen. Überall ist Tötensen. Merkeln Sie sich das.
Diese Sprachglosse erschien am 4. März 2006 in der Monatszeitschrift Kunst & Kultur (13. Jahrgang, Nr.3/2006, S. 6) unter der Überschrift "Ausdrücklich - Der Bundeskanzlerin hundert Tage zugehört und im Wortsteinbaumarkt gelandet".
nach oben
Müllnachrichten an das 120. Jahrhundert
Rainer B. Jogschies hat in die Vergangenheit einer strahlenden Zukunft gesehen.
Der ehemalige Schauspieler Ronald Reagan bekam ein wahrhaft phantastisches Drehbuch – endlich eines für die Ewigkeit – schön, nachdem es mit seinen Westernrollen in den Fünfzigern nur zu spöttischen Ehren gereicht hatte.
Ausgerechnet der renommierte Kommunikationswissenschaftler Thomas A. Seboek stellte dem gerade ins Amt eingeführten 40. US-Präsidenten 1981 ein Szenario zwischen Science Fiction und Trash vor: Die Story einer verschworenen Priesterschaft, die über dreihundert Generationengeheimnisvolle Riten pflegt und strahlendes Wissen von der Welt weitergibt.
Das fand Gefallen. Dabei ging es im Script nur um Müll. Die Bechtel Group Inc., einer der größten US-Mischkonzerne, war noch von Reagans Amtsvorgänger George Bush in Person des späteren Außenminister und Aufsichtsrat George Shultz beauftragt worden, für ein »Nationales Müll-Lagerungs-Programme« zu klären, wie heutige Informationen über "toxic trash" - hochgiftigen Abfall, vornehmlich atomaren - in hundert Jahrhunderten noch verstanden würden. Denn der gesellschaftliche Filmriss ist vorprogrammiert:
-
bereits nach drei Generationen verändern sich beispielsweise Wortbedeutungen oder auch die sozialen Bezugssystemen menschlicher Sprach- und Zeichenmuster derart, dass eine Verständlichkeit nicht mehr von vornherein angenommen werden kann. Sie werden schlicht vergessen wie manch Film-Held. Die Sprachgeschichte, insbesondere die Entschlüsselung und Entzifferung unbekannter Schriften und Symbole (seien es phönizische, altpersische oder zypriotische), war am Anfang der achtziger Jahre indes gerademal über ein Drittel des fraglichen Zeitraumes von zehntausend Jahren zu verlässlichen Ergebnissen über die Vergangenheit gekommen. Dies allerdings auch nu runter der Voraussetzung,
-
dass es überhaupt ein(wissenschaftliches)Bedürfnis zur Entzifferung der (ursprünglich nicht einmal in die Zukunft gerichteten)Informationen gab. Der Schwierigkeitsgrad der Entschlüsselung hing dabei zudem von der Vergleichbarkeit mit bereits bekannten Sprachen oder Zeichensystemen ab. Studien über das zielgerichtete Absenden an und das erfolgreiche Empfangen von Nachrichten in "Zukunft" liegen bis heute nicht vor.
Seboek, Professor für Semiotik an der Indiana University, ersann für Bechtel daher eine Methode zur regelmäßigen Aktualisierung der Atommüll-Nachrichten an das 120. Jahrhundert: Die altbewährte Mund-zu-Mund-Propaganda als Zukunftstechnik. Eine "Atom-Priesterschaft" solle mittels eines "künstlich geschaffenen Ritual mitzugehöriger Legende" eine "falsche Spur" legen, die "Uneingeweihte aus anderen Gründen als aus denen wissenschaftlicher Kenntnis der Strahlung und ihrer Folgen von den gefährlichen Stätten fernhalten".
Stoff für Suspense. Reagan, der später auch dem abgehobenen Star-Wars-Plot zuneigte, gab dem Hollywood-reifen Drehbuch eine Chance. Das US-Energie-Ministerium (DOE) ging an die Umsetzung, eine Milliarde US-Dollar sollen bis zum Jahr1996 investiert werden - für nicht mehr und nicht weniger als eine neue Stufe der Kulturgeschichte.
Seboek´s Grundannahme für Grabstätten der heutigen Zivilisation entspricht auffällig gängigen Science-Fiction-Ideen der Achtzigerjahre: "Der Aberglaube wäre letztlich das Motiv, ein bestimmtes Gebiet zu meiden." Wissen wäre nur noch für Eingeweihte wichtig. Der Kolumnist William McPherson fand denn auch das Orwell-Jahr 1984 angemessen, den umstrittenen DOE-Plan in der »Washington Post« unter der Überschrift "Futurespeak" zu feiern: "Kein aufrechter Amerikaner ist gegen Religionen - und neue kamen zu allen Zeiten auf." Dabei ist der Mythos der Müll-Priester die genaue Verdrehung der herkömmlichen Heilslehren und Religionen mit ihren Kultstätten und Kirchen: Es wird an etwas erinnert, was nicht zu erinnern ist - um abzulenken, nicht um sich darauf zu konzentrieren; es wird keine Erlösung versprochen, sondern der ewige Fluch. Eine für diesen "Aberglauben" zu schaffende "Atompriesterschaft" aus "kompetenten Physikern, Experten für Strahlenkrankheiten, Anthropologen, Linguisten, Psychologen, Semiotikern und," wie Seboek sann, "wer immer zusätzlich als Verwaltungsexperte jetzt und in Zukunft gebraucht werden sollte", müsste sich ständig "selbst ergänzen" und ein jährlich erneuertes Ritual abhalten, bei dem die Legende mit Abwandlungen zu erzählen sei im gleichzeitigen elitären Wissen der "Wahrheit".
Zehn Jahre später, 1991, fügte Seboek gegenüber der »Los Angeles Times« unter dem Eindruck des weltweiten Esoterik-Booms auch "zeitgenössische Schamanen und Druiden" zur Rekrutierung für seine sonderbare Sekte an. Wie diese "Folklore" inszeniert werden solle, ließ Seboek bis heute offen, zumal es kein funktionierendes Vorbild dieser Orte einervernebelnden Erinnerung gibt - abgesehen von den "Flüchen der Pharaonen", die bekanntermaßen weder auf Grabräuber noch auf Archäologen sonderlich abschreckend wirkten. Die "Nachricht" der "Legende" solle sich jeweils an drei Generationen wenden, weil in dieser überschaubaren Periode nicht mit einem entscheidenden Informationsverlust gerechnet werden müsste.
Ergänzend sah Seboek "meta-sprachliche Nachrichten" vor, die beispielsweise in künstlichen Sprachen wie mathematischen Formeln am Lager-Ort beispielsweise auf digitalisierten Datenträgern auffindbar sein müssten. Auch diese nur von wenigen zu entschlüsselnden Nachrichten sollten- freilich in größerem zeitlichen Abstand - fortlaufend erneuert werden.
Nach etwas über einem Dutzend Jahren waren freilich bereits diese Grundüberlegungen für ein "sicheres" Atommüll-Lager in der Weltöffentlichkeit so gut wie vergessen. Mit dem künstlichen Kult müsste es nach allen bisherigen Erfahrungen noch schlechter aussehen, sowohl semiotisch wie schlicht baulich:
-
Die in französischen Höhlen gefundenen Tierzeichnungen sollen zehntausend Jahre alt sein - uns sagen sie nicht viel. Gleichwohl will Seboek, so berichtete die »Los Angeles Times« noch 1991, überdimensionale Cartoons an seinen Kultstätten anbringen lassen, die "irgendetwas in der Art wie das Ghostbuster-Logo", nur "futuristisch" sein sollten.
-
Die Bronzezeit-Steine von Stonehenge dürften gerademal halb so alt, fünftausend Jahre sein. Verschiedenste Wissenschaftsrichtungen streiten, was sie bedeuten mögen. Sie sind jedenfalls beliebtes Reiseziel verschiedenster Nomaden der "New Age"-Szene. Ausgerechnet ein "modernes Stonehenge" versprach aber die »Washington Post« ihren Lesern blauäugig, obwohl das Gegenteil bezweckt sein sollte.
-
Als letztes der sieben "Weltwunder" haben allein die Pyramiden von Gizeh Klimaänderungen und Umweltgifte überdauert - sie sind erst viereinhalbtausend Jahre alt und sind entgegen ihrer Bedeutung Anziehungspunkt für Erlebnishungrige aller Jahrhunderte gewesen.
-
Die Hard- und die Software für Computer hat sich allein in einem Jahrzehnt seit Mitte der Achtziger so extrem verändert, dass ihre Nutzung in tausend Jahrzehnten wenig wahrscheinlich ist. Diese Probleme werden dadurch nicht geringer, dass die unterstellte radioaktive Halbwertzeit von zehntausend Jahren überwiegend bei Atomwaffen vorzufinden ist, die gefährlichsten Substanzen aus der augenblicklichen Produktion jedoch drei- und mehrfach längere Zeiträume lebensgefährdend strahlen.
Unbeirrt davon wurden in der Chihuahuan Wüste New Mexicos, nahe Carlsbad, bereits vier Schächte neunhundert Meter tief in einen Salzstock getrieben - 49 weitere sollen bis zur "Beladung" mit 800.000 Müll-Fässer 1996 für das "Waste Isolation Pilot Project" (WIPP), eines der geplanten US-Endlagerfertiggestellt sein. Dann werden Fördertürme und oberirdische Planungsgebäude für das Pilotprojekt abgerissen und der Bau der zeremoniellen Zukunft beginnt. Von Anbeginn wurde die Stonehenge-Lösung favorisiert: Es sollen dereinst 25 Granit-Monolithe von sieben Metern Höhe und je 25 Tonnen Gewicht in einem Kreis postiert werden, in der Mitte ein 200-t-Monolith auf einer Plattform in zweihundert Metern Höhe. Auch riesige spitze Betonstachel wie ein Igelrücken wurden erwogen.
Vergessen sind hingegen Umberto Ecos Einlassungen auf Fachkongressen der Achtzigerjahre zu "restringierten Gesellschaften" wie Barbaren, Fremde und unterlegene Rassen, für die der "gegebene Weltzustand" nur noch grob sichtbargemacht zu werden bräuchte - obwohl gerade sie vermutlich dem Hintergedanken der Atom-Priesterschaft am Nähesten kamen: Militärs gingen Mitte der achtziger Jahre von einer Unausweichlichkeit der atomaren Auseinandersetzung aus. Dann wären Menschen innerhalb weniger Generationen ohne Wissen, mit erheblichen sprachlichen Defiziten und Glauben an Kulte naheliegend.
Vergessen auch Stanislaw Lems Lösung, Lebewesen mit "mathematischen Kodierungen" zu verzieren oder Philipp Sonntags Vorschlag eines "künstlichen Mondes", der im Orbit die Wahrheit für eine wieder technikfähige Menschheit bereithalten sollte. Auch "lebende Detektoren" wie speziell gezüchtete heilige Katzen, deren Feld sich bei Radioaktivität verfärbt oder ausfällt, schienen angesichts der realen Müllsorgen längst zu behäbig: Heute schon muss fertig sein, was einzehntausendjähriges Reich begründet.
Zu bedenken gab Seboek freilich von Anbeginn der Debatte um eine Atompriesterschaft, dass künftige Generationen sich nicht "Geboten der Vergangenheit" verpflichtet fühlen könnten. Die "Atompriesterschaft" wäre dann mit einer "zusätzlichen Verantwortung" belastet, wenn ihre Anweisungen nicht aufgrund eines "Gesetzes", dann aufgrund "moralischer Verpflichtung" erfüllt würden. Zur Einhaltung beziehungsweise Durchsetzung schlägt Seboek die "verschleierte Drohung" vor, "dass die Nichtbeachtung des Befehls übernatürliche Vergeltungsmaßnahmen herausfordern könnte".
Da hätte der dann - unter der Voraussetzung zweimaliger Kandidatur und vierjähriger Legislatur wenigstens - 1290. US-Präsident einmal eine Überraschung für seine Bürger, an die Reagan nicht im Film geträumt hätte und vor der Robert Jungk schon vor zwanzig Jahren warnte: Den Atomstaat, der die Verstrahlung seiner Bürger bewusst in Kauf nimmt, wie dies die USA und die UdSSR ab Beginn der Fünfzigerjahre bereits heimlich taten.
Dieser Berichtt erschien 1994 zunächst im "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt", später stark gekürzt in der "Woche". Beide Publikationen haben den Gang der beschriebenen Dinge nicht mehr überlebt.. Und es gab noch keine Vorstellung, was Pressesprecher von Konzernen wie Vatenfall ausrichten könnten.
nach oben
Vom "schönen Schein" zum Waren-Sein
Rainer B. Jogschies über Werbung und Wirklichkeit, über Joghurt und Freiheit
Manchmal weiß ich schon nicht mehr, wer ich bin sobald ich fernsehe. Dann wird alles so nah, dass ich nach Luft schnappe. Und doch ist die Welt der Werbung, die alle paar Minuten jeglichen Gedankenfluss unterbricht, so fremd, so fern als wären alle um mich Aliens.
Aber von welchem Planeten stammen sie? Einem, auf dem futuristische Hexen ganztägig grölen "Geiz ist geil“? Einem, deren Wesen kurz vor der irdischen Dehydrierung stehen, so dass ihnen unkaputtbare Flaschen voll bunten Getränks ins Gesicht gewachsen sind? Wesen, deren Träume als rotes Tuch über Stadt und Land schweben bis der Stier der Börsennachrichten wutschnaubend unter ihnen Veitstänze aufführt?
Man weiß schon nicht mehr, wer man ist. Oder was. Oder wozu. Alles ist neu, alles ist bunt. Nur ich nicht. Aber ich kann mich erneuern! Ich kann so bunt und schön werden wie in den fernen Bildern. Ja, ich kann sogar Verdauung haben. Wenn ich den richtigen Joghurt esse.
Es ist alles so viel einfacher geworden. Seit wann eigentlich? Ich weiß es nicht mehr. Und was eigentlich? Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ist es schon lange her. Vielleicht ist alles auch gerade erst anders geworden? Vor fünf Minuten womöglich. Als gerade in einem Werbespot entdeckt wurde, wie junge Frauen ihren Durchfall bekämpfen und dadurch sogar am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können statt hinter jedem Busch verschwinden zu müssen.
Ich muss nachdenken. Wann bloß? Wie? Der Kaiser, hörte ich als Kind, sei stolz gewesen, als er seine `neuen Kleider“ trug. Auch wenn er als Mensch nackt dastand. Da gab es noch wenig Werbung. Nach den heute gängigen Fernsehgewohnheiten aber macht sie zusammengenommen Stunden der Tageszeit der durchschnittlichen Bevölkerung aus. Sagt das Bundesstatistikamt.
Das Volk hatte dem Kaiser eingeredet, er sei was Besonderes in dem ungewohnten Aufzug, der gar keiner war. Dass über ihn gelacht wurde, merkte er zunächst nicht. Was für ein Volk!
Sowas würde die Werbung nicht tun! Heute wird allerdings auch viel über Menschen gelacht, die sich `falsch" anziehen. Oder sich noch die Hände waschen, in Wasser statt sie mit Schaum einzusprayen. Oder die einen Snack mit einem Menschen teilen, den sie lieben, statt zu warten bis der einem Unglück zum Opfer fällt, wie eine TV-Werbung suggeriert. Wer sind wir dadurch?
Jedenfalls haben wir keinen Kaiser mehr. Bei uns ist der Kunde `KönigA. Sagt nicht nur eine Bier-Werbung. Er spart, nicht nur an der Kleidung. Deshalb sind Klamotten für Könige so preiswert wie nie. Man kauft viel, aber für wenig. Damit der "König Kunde" dafür nicht mehr lange arbeiten muss, sagen die Unternehmen. Es gibt vor der Kamera sogar "Preis-Operationen" am unbetäubten Verbraucher.
Ein König sollte sowieso nicht arbeiten müssen, hab´ ich als Kind gedacht. Dafür hat er sein Volk. Das arbeitet.
Aber was, wenn das Volk der `KönigA ist? Und kaum mehr Arbeit da ist? Heute kann solch ein "König" sich, wenn er möchte, alle paar Tage neue Kleider anlegen. Man ist ja erwachsen.
Viele Menschen, die immer wieder billige Kleidung kaufen oder im Internet ersteigern, haben allerdings gar keinen Job mehr, weil sonst die Sportschuhe, die DVD-Player, die Autos, die Handys oder die Hamburger angeblich "zu teuer" würden. Sagen Wirtschaftsverbände und die Parlamentsparteien. Sonst könnten Kunden wie sie sowas gar nicht kaufen.
Alle sind immer mehr König, je weniger sie arbeiten müssen. Eigentlich stehen sie nackt da. Sie merken es nicht wie der Kaiser. Denn was sie tragen, ist schön bunt. Es ist nicht die nackte Haut. Es ist ein schöner Schein. Das ist nicht außerirdisch.
Aber wer redet ihnen das ein? Was scheint da schön? Das können doch nicht die billigen Klamotten sein, die in der Werbung besser als am eigenen Körper aussehen. Kann es bloße Selbsttäuschung sein?
Als es in den Sechzigerjahren die erste hohe Arbeitslosigkeit nach dem Wirtschaftswunder gab, da stöhnten viele Soziologen, dass sich die Menschen `darüber definiertenA - und nun in mehr als eine "Wirtschaftskrise" gerieten.
Das schien nicht schön. Deshalb formulierte Ursula Engelen-Kefer in den Siebzigern, als die Arbeitslosigkeit sogar noch gestiegen war, ein "Recht auf Arbeit".
Seither hat sie sich vervielfacht. Das Recht blieb aus.
Aber Politiker aus diesem Jahrhundert beten immer noch herunter: Wer keine Arbeit hätte, dessen Leben habe kaum noch "Sinn". Er finde keine Identität und wähle womöglich rechtsradikal. Ein Kapitalismus, der keine Arbeit mehr gebe, sei "unmoralisch". Eine Demokratie ohne Arbeitsplätze sei in Gefahr so zu enden wie die Weimarer Republik.
Als sei der Kapitalismus bloß aus Mildtätigkeit von eklektizistischen Ethikern ersonnen worden. Als sei "Kapitalismuskritik" andererseits die leicht verständliche Urmutter einer Psychologie der Frustrationen und einer Philosophie vom Sein. So als sei der Zweite Weltkrieg aus Langeweile im Anschluss an ein Grillfest in der Datsche ausgebrochen ...
Zu Beginn der Siebzigerjahre hatte Wolfgang Fritz Haug während der andauernden Debatte um den notwendigen Ausbau des Sozialstaates die seinerzeit gängige "Kapitalismuskritik" wenig beachtet um die "Kritik der Warenästhetik" bereichert. Die Verwechslung des Gebrauchswertes der Dinge mit dem Gebrauchswertversprechen der Werbung, mahnte er, werde dazu führen, dass Hoffnungen immer wichtiger würden als ein handfester Nutzen. Und dass die Dinge bald nicht mehr beim Namen genannt werden könnten, sondern die Waren das Wahre ersetzten. Als Beispiel nannte er damals das prominente "Busenwunder" aus München Rosy Rosy. Nach ihr wurden Miederwaren benannt. Als sie vor Gericht auf Namensschutz klagte, bekam stattdessen der mit ihrem Namen üppig Spekulierende Recht. Der BH bekäme Vorrang vor dem Busen, die Form habe über den Inhalt gesiegt, resümierte Haug. Er befürchtete, dass die "Bewusstseinsindustrie" um Konzerne wie Springer leichtes Spiel haben würde, wenn der Blick auf die Wirklichkeit von den Waren derart verstellt würde wie die Erotik vom vordergründigen Sex.
Noch gab es nur bescheiden Werbung. Fernsehzuschauer ahnten nicht einmal, dass sie freier informiert würden, wenn alle paar Minuten Programm die Werbung unterbräche. Dieser Segen kam erst mit der Einführung des "privaten" Fernsehens im Zuge der "geistig-moralischen Wende" des CDU-Kanzlers Kohl. Heute werden sogar die Freier im „privaten“ Fernsehen informiert.
Es war und wurde also anders als Haug schwante. Der schöne Schein allein täuscht nicht über das triste Sein hinweg - nicht bloß die Warenwelt verstellt nicht den Blick auf die wahre Welt. Das Wörtchen "Schein" schillert viel effektvoller mit seinen zwei Bedeutungen: Dem der Aura, des Glanzes - und dem des Anscheins, des vermeintlichen Glanzes. Beides macht die geheime Verführung der Werbung gewiss aus, wie sie Vance Packard in den Sechzigerjahren schon für die USA beschreiben hatte. Doch ohne dass sich die Politik eines ähnlichen Verwirrspiels bediente, wäre sie nichts.
Denn es kam auch ganz anders als die landläufig geäußerte Sorge um den Seelenzustand westdeutscher Arbeitnehmer und den vermeintlich zwangsläufigen Folgen der weit geringeren Arbeitslosigkeit in den Sechzigerjahren für die Demokratie vermuten ließ. Nicht etwa das Sozialsystem wurde zusammengestrichen wie heute. Es wurden vielmehr "Notstandgesetze" verabschiedet. Auch in den Siebzigerjahren wurden trotz des andauernden folgenlosen Geredes um die Knappheit öffentlicher Kassen Arbeitslosenhilfe oder "Stütze" nicht gekürzt - die Polizeien und der "Verfassungsschutz" wurden aufgerüstet. In den Achtzigern konnte noch so sehr von Mittelknappheit und "Neuer Armut" gejammert werden - immer neue Mittelstreckenraketen wurden stationiert und andere spektakuläre Rüstungsausgaben getätigt. Der erwartete Aufstand blieb aus, der heraufbeschworene Krieg gegen den Kommunismus fand nicht statt - die Probleme blieben, aber sie waren reichlich besprochen.
Und sie wurden immer größer. Hinter brüchigen Fassaden lässt es sich anderseits immer schöner einrichten. Lebst Du noch oder wohnst Du schon? Längst spielt keiner mehr der Obrigkeit, die ohnehin nicht an Lösungen interessiert ist, ein Potempkin´sches Dorf vor, sondern sich selbst. Der Kaiser ist tot, es lebt der König Kunde. Nicht das Sein bestimmt inzwischen das Bewusstsein, sondern der Schein - nicht die Warenwelt steht gegen das wahre Sein, die Identität, sondern das allumfassende Ware-Sein feiert das Identischsein von Gebrauchswertversprechen und Verbraucher. Das macht sparsam Sinn, auch wenn es sinnlos ist.
Da braucht es keine neuerliche "Kapitalismuskritik" und auch keine Reform der Reform fehlender Reformen. Wer angesichts der Heuschreckenplage in Afrika und der tödlichen Hungersnot dort vor einer "Heuschreckenplage" hierzulande warnt oder "Arbeit für Alle" fordert, zeigt ohnehin einen ähnlichen Realitätssinn wie der Kaiser. Die dem glauben, fühlen sich davon nicht einmal getäuscht. Sie lachen nicht.
"3- 2 - 1 - Meins!" Das reicht. Was mir gehört, brauche ich nicht zu "sein". Und doch "bin" ich, was ich habe. Alles meins! Der Kapitalismus, der freie Markt im Internet sowieso, der Katholizismus ("Wir sind Papst!"), der Kanzler, den ich mir alle zwei Jahr neu wähle, die ganze Welt, die ich mittels Tourismus aus der Unterentwicklung hole selbst wenn eine Welle des Vergessens über ihre Katastrophen schwappt ist.
Wer braucht da noch neue Kleider? Alle, ständig. Ich kaufe, also bin ich.
Nur ich sitze da und wundere mich. Nach der Werbung, welches Rennboot sich Rentner kaufen, die sich rechtzeitig einem Investmentfonds anvertraut haben statt einer Regierung welcher Partei auch immer. Und noch vor dem Hinweis, dass heute selbst kleinste Töchter von Bauwagenbewohnern gerne "Spießer werden" möchten.
Wie gut, dass es zum Verdauen handliche "Darmkulturen" gibt, die wie Joghurt aussehen und beworben werden. Keiner käme auf die Idee, dass er dabei im doppelten Sinne Scheiße frisst. Das tut er zwar, aber mit Kulturen statt Kultur. Und es geht ihm gut dabei.
Manchmal weiß ich schon nicht mehr, wer ich bin sobald ich fernsehe. Dann wird alles so nah, dass ich wegsehen möchte. Ist doch die Welt der Werbung verlogen bis zur Wahrheit.
Diese Glosse erschien 2005 in der Monatszeitschrift Kunst & Kultur (12. Jahrgang, Nr.6/2005). Wer bietet mehr?
nach oben
Menschen sind keine Leuchttürme
Wie sich die kulturpolitische Debatte vor lauter Nebel nach Licht sehnt ...
Rainer B. Jogschies kommentiert die Feierlichkeiten zum dreißigsten Jubiläum der "Kulturpolitischen Gesellschaft"
Menschen sind keine Leuchttürme. Deshalb werden sie oft übersehen. Selbst wer strahlt, kann nicht immer damit rechnen, erkannt zu werden.
Menschen sind keine Kultur. Sie machen welche. Manche behaupten, sie hätten welche.
Beide Beobachtungen waren – stark vereinfacht und profanisiert – der Ausgangspunkt zur Gründung der Kulturpolitischen Gesellschaft. Selbstverständlich war dies der Mittelpunkt aller wohlmögenden Festvorträge zum 30-jährigen Bestehen. Man hörte es nur nicht mehr so deutlich heraus. Dass allen Menschen die Kraft zur Kultur innewohne. Dass sie von allen, mit allen und für alle möglich sei – und eben nicht nur bestimmten Bewohnern mit bestimmten Bildungsgraden und Berufsverhältnissen zukäme. Dass sie die Würde und die Wirklichkeit der Menschen prägen werde.
Gewiss sind diese Gedanken in ihrer schönen Schlichtheit oft zu wörtlich oder im Gegenteil zu weisheitlich verstanden worden. Nicht alles, was Soziokultur sich nannte oder als Popkultur etikettierte, war erbaulich oder emanzipativ.
Doch ob ein „Leuchtturmprojekt“ oder eine „Hafen-City“ jemals auch nur in die Nähe solcher Schlagwörter kommen werden, so naiv wie bestechend sie auch immer sein mögen, ist mehr als fraglich.
Gleichwohl wurde in den Festvorträgen, in den Debatten und Besichtigungen während der Festtagung der KuPoGe so getan. Es wurden für „Leuchtturmprojekte“ und die „Hafen-City“ sogar Argumente gefunden, die den Diskussionszusammenhängen der vergangenen dreißig Jahre entliehen schienen. Von Realismus war die Rede, von einzigartigen Chancen, von Identifikation, von bürgerschaftlichem Engagement, von Werten.
Und doch war da mehr Nebel als Leuchtfeuer. Mehr Finden als Suchenwollen. Mehr Antworten als überhaupt verdutzte Fragen gestellt wurden.
Es war eine schöne Sommernacht in den Alpen gewesen. Der Urlauber Armin H. Fuchs schrieb an die Freunde in Hamburg, mit denen er sich einmal im Monat zu einem „Kultur Jourfixe“ traf. Das erste Mal in Leben habe er Glühwürmchen gesehen. Sie seien unvergleichlich schön, ihr luftiger Tanz ein Traum. Man werde ihnen mehr Beachtung schenken müssen, auch an der Elbe. Nach seiner Rückkehr wolle er mit den Freunden – unter ihnen Filmförderer Dieter Kosslick, Ausstellungsmacher Nils Jockel, Theatermacherin Hannah Hurtzig, Galerist Thomas Wegner und zehn, zwanzig, manchmal dreißig anderen – eine Initiative gründen.
Doch er verunglückte. Es wurde nichts aus dem Leuchtwurmprojekt. Der Kreis, aus dem jahrelang Anregungen und praktische Hilfen in alle möglichen Kulturprojekte der Stadt flossen, zerfiel.
Wie kein anderer wurde Armin Fuchs in Hamburg mit dem Begriff „Stadtteilkultur“ identifiziert. Nur dass er Mitarbeiter der Kulturbehörde war, mochte mancher kaum glauben. Vielleicht auch deshalb erinnerte (sich) keiner der offiziellen Behördenredner und –rentner beim KuPoGe-Fest an den gewitzten Mann, der immer den Mut hatte, nötigenfalls so „unrealistisch“ zu „träumen“, dass die Realität nicht zum übermächtigen Alptraum gerät.
So einer war auch Walter Seeler. Als die Kulturpolitische Gesellschaft vor dreißig Jahren in Hamburg ihre Programmatik formulierte, da lud er zu stolzen Spaziergängen durch den Stadtteil. In Zimmermannskluft führte er durch „sein“ Ottensen. Der Beamte des Bezirksamtes Altona hatte beharrlich die geplante „Flächensanierung“ gemildert in eine „sanfte“, kleinteilige Renovierung der Räume in der Stadt. Das Grün sollte zurückkehren, die Autos weichen. Die Nachbarn sollten mitreden und so der Stadtteil mit ihnen und durch sie „neu“ entstehen, nicht vom Reißbrett. Seeler liebte bald die entstehenden Oasen in den Hinterhöfen, alles andere als Leuchttürme. Er liebte es, dass kleine Theater wie das „Monsun“ ehemalige Fabriken von der Basis nutzten statt einen Überbau aufzustülpen.
Als seine Amtszeit zuende ging, bemerkte Walter Seeler, dass seine Schrift verschludert war. Er trainierte mit einem wuchtigen Füllhalter wieder so zu schreiben, dass jeder seine Notate sofort und gerne lesen mochte. Nicht nur, weil er Hosenträger Laptop-Trägern vorzog, wurde er vielfach mehr mit „Stadtteilkultur“ identifiziert als mit seinem geliebten und gehassten Job als Sanierungsbeauftragter.
Jahrelang prägten Armin Fuchs und Walter Seeler die Kulturpolitische Gesellschaft mit. Aber mehr noch wirkte ihr Tun in der Stadt und darüber hinaus. Was hätten sie beim dreißigsten Geburtstag in der Fabrik gesagt?
Vermutlich nichts. Was ist da noch zu sagen, wenn dort als Regentenschläue dargestellt wurde, dass die Stadt „heimlich“ die Grundstücke um die Speicher gekauft und somit die Chance für den angeblich großen Wurf „Hafen-City“ habe. Ein „Stadtteil“ mit Pontons zum Seglervertäuen, aber ohne Läden, mit einer „Philharmonie“, aber ohne Schule oder Kindergarten, mit Blick auf kanalisiertes Wasser, aber ohne Bäume oder Gärten – ein „Stadtteil“ der schön Reichen als Anziehungspunkt für Touristen, aber ohne Bürgerbeteiligung. Kein Leuchtturm der Stadtplanung, kein Leuchtturm der Partizipation, kein gewachsenes, bewohnergeprägtes Quartier, sondern ein von wohlmeinenden Regierungen aller Couleur auf Kosten der Bürger und wie zum Hohn gesetztes leuchtendes Wahrzeichen für Entmündigung, ein Disneyland für DINKis, Personen mit „double income, no kids“.
Es wäre traurig, wenn es nicht so komisch wäre. Da redeten Realisten von Leuchttürmen als hätten nicht gerade sie GPS im Wagen. Da schwärmten sie von generalen Planungsmöglichkeiten der Politik und Verwaltung, die gleichzeitig immer der „Freiheit“ der Investoren huldigen als sei sie Ausweis von Kreativität und Menschenwürde.
Vergessen, dass zur Kaiserzeit Planerstriche das dortige Wohn- und Arbeitsgebiet, ein von der Obrigkeit gefürchteter Ort der Rebellion, umwandelten in die bewohnerlose „Speicherstadt“. Vergessen, dass jahrzehntelang Stadtpolitik dies Viertel nach dem Krieg baulich und wirtschaftlich erst herunterkommen ließ. Vergessen, dass „heimliche“ Politik gegen die Bürger das „Alte Land“ in Hamburg vollends Container- und Flugkisten opferte und Stadtteile wie Hamburg-Harburg nach der Sanierung völlig verwahrlosen und verrotten ließ. Vergessen, welches Elend mit den zahlreichen vorangegangenen Großprojekten entzeugt wurde, von der „City Nord“ zur „City Süd“, von Mümmelmannsberg bis Neu Wiedenthal.
Vergessen sind Armin Fuchs und Walter Seeler noch nicht. Zum dreißigsten Geburtstag der Kulturpolitischen Gesellschaft muss aber anscheinend auf eines aufmerksam gemacht werden: Leuchttürme sind keine Menschen.
Dieser Zwischen- und Nachruf auf die Event- und die ehemalige Basis-Kultur erschien in den Kulturpolitischen Mitteilungen (Nr. 114, 2006, S. 52). Anlaß war das vorangegangene 30-jährige Jubiläum der Kulturpolitischen Gesellschaft, das in der Hamburger Fabrik gefeiert wurde - mit Reden u.a. zur kulturellen Notwendigkeit einer "Elb-Philharmonie" und einer "Hafen-City" (ohne Kindergärten, Schulen, Läden und Kultureinrichtungen) ...
nach oben
"Bild´ Dir meine Meinung!"
– Die Talkshow-Adipositas kommt in Bewegung, uff.
Rainer B. Jogschies über die Bemühungen von Journalisten, wieder ernst genommen zu werden
Was ist da los? Das liest man in keiner Zeitung: In Loccum und Tutzing tagten Politiker, Journalisten, Politikwissenschaftler und Bürger, um der politischen Kultur des Landes aufzuhelfen. In diesem Jahr werden die Arbeitsrunden fortgesetzt. Ein "Loccumer Code" soll künftig Orientierung bieten – dpa arbeitet bereits an einem eigenen Kodex.
Der Kehraus um den Jahreswechsel war einhellig, doch wenig erhellend. Im Dezember wurde der "Glaubwürdigkeitsverlust der Politik" beklagt, in der Evangelischen Akademie Loccum (EAL). Und auch im Januar in der Akademie für politische Bildung (APB) in Tutzing war der Tenor ähnlich: "Vom Vorbild zum Zerrbild – Politiker-Image in der Mediokratie" überschrieb der Politologieprofessor und Akademiedirektor Heinrich Oberreuter seine Tagung. Der Politologe und Akademiedirektor Fritz Erich Anhelm hatte zuvor gar die Aufrufform gewählt: “Informations- und Kommunikationskultur entwickeln – Ein dringender Beitrag zur Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland“.
Doch wer ist schuld an Zerrbildern und unterentwickelter Information – ausgerechnet in einer "Mediokratie“? Die "Politikverdrossenheit“, die Politiker und Journalisten gerne denen vorhalten, die ungern die "Grenzen des Zumutbaren" an sich erprobt wissen wollen? Oder die landläufige "Politikerschelte" von Bürgern und Journalisten, die sich an Privatestem wie auch an "Skandalen" offenbar mehr noch erfreuen als sich davor zu ekeln?
Die gegenseitigen Zuweisungen sind ebenso vertraut wie selbsterklärend. Die sie aussprechen, kriegen schnell sowohl Zustimmung als auch Ablehnung, je nach Publikum, je nach Konfliktfreude. Nicht nur während Tagungen auf dem flachen Land oder am bayrischen See: Im öffentlichen Dialog, sofern er überhaupt noch stattfindet, herrscht ansonsten Resignation. Von "Kultur" ist kaum noch die Rede, wenn über Politiker, Reformen und Formen geschimpft oder sich über den Aktionismus und die Scheinheiligkeit von Journalisten beklagt wird. Und merkwürdig: Von Politik schon gar nicht mehr, wenn über den Verfall publizistischer Sitte gejammert wird. Und "das Volk" kommt im achtzehnten Jahr nach der Wende auch nicht mehr vor.
Was aber ist so "dringend" an einem Gespräch über ein offenbar durch die Medien ohnehin präsentes Thema, wie auch immer?
Die Antwort klingt widersprüchlich: Ausgerechnet indem die Mechanismen der Darstellung von Politik, ihre Inszenierung und Verfremdung beispielsweise durch die grobschlächtigen Fern-Sehgewohnheiten von scheinbar festgefahrenen Positionen und fern der Medien diskutiert werden, entsteht Bewegung, die sonst den Medienkonsumenten fast aberzogen ist. Kleine Gesprächsgruppen entwickelten in Loccum nach dem Kaffeetrinken rasch zahlreiche "Anstöße“, wie Medien und Politiker, Politiker und Bürger "besser" miteinander umgehen könnten – nämlich so, dass Demokratie den Dialog als wichtigstes Medium pflegt. "Politikerinnen und Politiker sollen ihre Streitkultur so entwickeln, dass sie einen positiven Einfluss auf die Streitkultur der Gesellschaft insgesamt bewirkt. Das gilt ebenso für die Berichterstattung der Medien und die gelebte politische Kultur der organisierten Zivilgesellschaft," heißt es da beispielsweise in einem nur auf den ersten Blick naiv klingendem Appell.
Denn solche Vorschläge, von der Tagungsleitung sogar schon als "Loccumer Code" gefeiert, haben eine Dialektik und offenbar eine Dynamik zur Grundlage, die den bekannten Positionen der Parteien und ihrer Parteigänger in den Medien abgeht. Das hehre Ziel, so naiv es auch immer klingen mag, ist nämlich bereits der Weg.
Daher ist beispielsweise in Loccum bereits eine Folgediskussion in diesem Jahr geplant. Teilnehmende Journalisten der Nachrichten-Händler deutsche presse agentur (dpa) versprachen überdies, dann auch einen betriebseigenen Kodex zu präsentieren, der künftig journalistische Qualitätsstandards betriebsintern sichern helfen könnte. Und er wird wegen der medialen Mittlerposition der dpa voraussichtlich auch eine Fernwirkung auf die Zunft ausüben.
Zumindest würde die Orientierung mit dem öffentlichen Gespräch über Codes, Kodexe oder Anstöße leichter. Denn längst greifen die Regeln von Kontrollinstanzen wie dem gemeinsamen Deutschen Presserat der Verleger und Journalistenverbände oder der Rundfunkräte bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht mehr in allen Fällen.
Zudem plagt sich Deutschland immer noch mit dem "Tendenzschutz“, der einst Verlegern wie Axel Cäsar Springer das Recht gab, seine Meinung millionenfach zu verbreiten nach dem Motto "Bild´ Dir meine Meinung!“. Angesichts heutiger Aktiengesellschaften ist wenig einleuchtend, warum beispielsweise ein tendenzgeschütztes Blatt wie der SPIEGEL plötzlich im letzten Wahlkampf entgegen der Blattgeschichte ausgerechnet Angela Merkels politische Gegner schmähte – während Verlegerstochter Franziska Augstein rechtlich sich nicht gegen die offenkundig geänderte Redaktionslinie und deren ihrer Meinung nach "geschwätzigem Stil" durchsetzen konnte.
Ob beispielsweise die von der deutschen journalisten union (dju) seit Jahrzehnten geforderten "Redaktionsstatute" als Gegenentwurf zum überkommenen "Tendenzschutz" nicht nur eine erhoffte "innere Pressefreiheit" sichern könnten, sondern auch die Demokratie unanfällig machte gegen die Globalisierung der Medienkonzerne, kann hier dahingestellt sein. Ob es noch weiterer rechtlicher Regelungen zur Kontrolle der Medien bedürfte oder sie nicht vielmehr die Demokratie beschädigen könnten, wie der frühere Verfassungsrichter Ernst Benda in Loccum befürchtete, ist womöglich gar nicht die Frage.
Vielleicht wiederholt sich nun in anderem Zusammenhang schlicht, was einst mit der Kulturpolitischen Gesellschaft als Reflex auf die erstarrte, "ernste" Kultur entstand und zunächst in zahlreichen Tagungen und Runden provokant "Kultur für alle" einforderte – nur in umgedrehter Richtung, von den populäreren Medien hin zur Ernsthaftigkeit, hin womöglich zu einer "Politik für alle“, einer Demokratie, die nicht nur Politiker wieder ernst nimmt, sondern vor allem die Bürger. Eine Analogie lässt sich nicht nur in Bezug auf die Zielsetzung der Demokratisierung ziehen. Auch der Weg wird ähnlich absehbar verlaufen. Die kulturpolitischen Initiative redeten ja nicht der Einmottung der Opernhäuser und der Bestückung der Museen mit Laienwerk das Wort – allein die Debatten um grundlegende Werte und Normen haben jedoch die Kulturpolitik binnen dreier Jahrzehnte nachhaltig verändert. So auch bei den in Loccum und Tutzing politik-kulturellen Initiativen, die nicht eine Kulturrevolution aufs Programm setzten. Es soll nicht die "Inszenierung von Politik" generell abgeschafft werden, das große wie das kleine Theater. Und es muss auch nicht die wöchentliche Rechtfertigungsrede vor der Bürgerbasis eingeführt werden. Das Problem ist für eine Demokratie ernster, die sich nicht mehr vornehmlich als "sozial" versteht, sondern zumindest in den Medien und in frustrierten Politerreden selbstreferentiell "Mediendemokratie" genannt wird. Die in Deutschland immer noch verbreitete anti-demokratische Attitüde darf nicht zur vordergründigen Medienmüdigkeit verharmlost werden.
Es ist jedenfalls erkennbar nicht mehr wie in den Achtzigern und Neunzigern ergebnisoffen, ob wir uns noch "zu Tode amüsieren" (Neill Postman) werden oder ob der "Terror der Intimität" (Richard Sennett) die Öffentlichkeit an sich zerstöre. Längst leiden Bürger weniger an der "Mediokratie" als vielmehr an einer Talkshow-Adipositas, die jeglichen Hunger auf Vollwert-Information vergessen macht.
Und zumindest führende Politiker leiden längst nicht so existenziell an der Mediensituation wie gerne mitleidheischend geklagt: Immerhin wurden die letzten drei Kanzler der Bundesrepublik gleich nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt von Medienhäusern alimentiert; frühere Minister sind ohne nennenswerte handwerkliche Eignung plötzlich in Vorständen von Medienkonzernen zu finden.
Darüber beharrlich zu reden, wird die auslösenden Umstände nicht erträglicher machen. Aber es ist der berühmte "erste Schritt" – zumal einer, der die bereits verblassende Rede von der "Mediengesellschaft" beim Wort nimmt und der verblasenen Rede von der "Mediokratie" im Gespräch entgegentritt.
Dieser Bericht erschien in den Kulturpolitischen Mitteilungen (Nr. 116, 2007, S. 16). Er bezog sich auf die Tagungen „Informations- und Kommunikationskultur entwickeln – Ein dringender Beitrag zur Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland“, Evangelische Akademie Loccum, 13. – 15. Dezember 2006 (in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (Büro Niedersachsen), der Heinrich-Böll-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung und „Vom Vorbild zum Zerrbild – Politikerimage in der Mediokratie“, Akademie für politische Bildung Tutzing, 19. – 21. Januar 2007 (In Zusammenarbeit mit der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen).
nach oben
Endlich Nichtwähler!
Von Misstrauensvotum gegen Willy Brandt
zur Misstrauenswahl nach Ronald Barnabaß Schill
Rainer B. Jogschies über die Bemühungen von Politikern, nicht mehr ernst genommen zu werden
Vor dreißig Jahren, 1974, wollte Rainer Jogschies "erstmals" wählen – bei der Hamburg-Wahl im Februar 2004, der ersten von 14 Wahlen in diesem Jahr, verweigerte der Journalist und Politologe in Hamburg erstmals die Wahl. Und wenig später schmiss der Bundeskanzler Gerhard Schröder sein Amt hin, ein Misstrauensvotum hatte er schon nicht mehr nötig ...
Im Klassenraum flimmerte ein Fernseher. Die Schüler saßen auf ihren Tischen. Sie starrten stumm auf einen Stuhl, hinten im Raum bei der Steckdose.
Einer dreht an der Zimmerantenne. Das Bild verschwimmt blau. Der Bundestag in Bonn: Abgeordnete wimmeln. Geschnatter kommt von Ferne in die Stille des Schulzimmers .
Ein hoch aufgeschossener Langmähniger hockt sich vor das Gerät. Er fummelt an den Drehknöpfen. Knarzen, Scheppern. Der Ton wird dumpfer, aber nicht lauter. "Scheiß Kiste!" Er rüttelt am kleinen Apparat. Ein Kamm mit Toupierstiel fällt aus der tief aufgesetzten Gesäßtasche seiner rissigen Levis.
Die Stahlkufen des mit Filzstift beschmierten Stuhls quietschen über den gebohnerten Boden. "Nicht! Pass doch auf! Die Antenne!“, ruft der quallige Kurssprecher im dunkelbraunen Breitcordanzug. Der Lange ruckelt den Kasten zurecht, als müsse er die ungelenken "Peace“-Zeichen, das "Jimi" und "CCR" an der Sitzlehne dahinter verdecken.
Der Lehrer lehnt abseits an den Heizrippen. Sein rostbrauner Zopfpullover hebt und senkt sich gemächlich. Er schnurrt unter der halb geöffneten Fensterreihe wie ein müder Kater. Mit der flachen Hand streicht er gegen den borstigen Kinnbart. "Nicht so laut," brummt er. "Nebenan ist noch Unterricht.“
Dann ein kaum hörbares Glöckchenbimmeln. Es wird verkündet. Aus den quengligen Plastiklautsprechern des Campingfernsehers heißt es, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, habe die Mehrzahl der Stimme des Deutschen Bundestages auf sich vereint. Das "konstruktive Misstrauensvotum" des Abgeordneten und Oppositionsführers Rainer Barzel ist gescheitert.
Die Jungen sitzen da. "Bau Du ab," sagt der Lange zum Breitcord. Er bückt sich zum Kamm, pustet Staub aus dessen Zähnen. Dann plumpst er, den Kamm wieder verstaut, auf einen beiseite geschobenen Stuhl im Mittelgang. Mürrisch schiebt der Dicke die Antenne ineinander und trägt den Fernseher entlang der engen Sitzreihen nach vorne.
Der Lehrer geht zum Pult. Er sieht auf das Stromkabel, das wie eine Schlange auf dem Klassenbuch liegt, und räuspert sich. "Das war´s. Eigentlich ist´s genug für heute. Aber wenn ihr wollt, können wir noch bis zur Pause drüber sprechen.“
Es ist wieder Politikstunde im roten Klinkerbau des Friedrich-Ebert-Gymnasium in Hamburg-Harburg. Draußen ist April. Es nieselt.
Einigen Oberstuflern fröstelt. Nur der dicke Detlef, der vor dem trutzigen Gebäude manchmal für die Jungsozialisten agitiert, lächelt. Er hat es ja gewusst: "Willy" schafft es. "Wenn ich heute hätte wählen dürfen, dann hätte ich jedenfalls für Willy gestimmt," sagt ein hagerer Rotschopf, der nur redet, wenn er weiß, dass genickt wird.
Ein paar Minuten "diskutieren" sie noch. Warum einige erst in drei Jahren, andere, spät Eingeschulte oder frühere Sitzenbleiber, schon in zweien wählen dürften. Warum sowieso nicht der Kanzler, sondern nur die Bundestagsparteien zur Abstimmung stünden. Dann schnarrt die Pausenklingel.
Auf dem Schulhof versuchen die Jungen, die schon einen Führerschein machen durften, die Mädchen mit den kürzesten Minis für den Nachmittag zu einer Spritztour einzuladen.
Ein halbes Jahr später ist es plötzlich soweit. Sie dürfen alle wählen. Nur ein Auto hat nicht jeder. Das Wahlrecht sieht nun Achtzehnjährige wie sie als "mündig" an. "Willy wählen" steht auf den Buttons an ihren Parkas. Oder auch "Lieber reiner Korn als Rainer Barzel“.
Der Politikkurs steht in diesem November 1972 vor dem Unterricht am schweren Eisentor zur "Eberthalle“. Es gießt in Strömen. Sie gehen nicht hinein. Sie streiten. Vergessen ist die Wut, dass da ein Christdemokrat "Misstrauen" wegen des "Ausverkaufs deutscher Interessen" gegen den Friedensnobelpreisträger des Vorjahres säte.
Vergessen ist die Furcht, die "Entspannungspolitik" könne scheitern bevor sie begonnen hat. Die "Ostverträge" mit Polen waren am 17. Mai 1972 im Bundestag verabschiedet worden, in dem Willy Brandt gerade erst am 27. April noch von den Abgeordneten bestätigt worden war. Sie hatten doch zugesehen.
Und auf einmal stellte er "die Vertrauensfrage" im Parlament! Was solle man davon halten, fragte "Yogi" mit den ewig fettigen Haaren den Brummbären im Beamtendienst. "Sag nicht MAN. Es ist eine Unsitte, so zu generalisieren. Wenn Du von Politik redest, sage ICH. Dann weiß jeder, wofür du stehst – und nicht, hinter wem du Dich versteckst.“
An jenem 20. September 1972 stand jedenfalls kein Fernseher mehr im Klassenzimmer. Nur Fragen. Sie waren müde ohne Anstrengung. Brandt verlor die Abstimmung. Der Bundestag wurde daraufhin aufgelöst: "Neuwahlen“.
Nun sollen die Jungen plötzlich wählen, was sie vorher hatten wählen wollen, "die Reformen“. Aber sie mögen nicht. Sie schütteln die Köpfe, als wollte ihnen jemand eine Tom-Jones-Platte verkaufen.
Denn Brandt ist trotz des gerade gewonnenen "Vertrauens" doch noch an einigen FDP-Abgeordneten seiner Koalition für "Mehr Demokratie" und "Ost-West-Aussöhnung" gescheitert. Sein "Sieg" wurde seine Niederlage.
Nun agitiert Detlef, dessen Haare inzwischen auch über die Ohren schlappen, in den Pausen, dass sie "mit der ersten Stimme Willy, mit der zweiten Scheel wähl´n“. Anders, das rechnet ihnen später im Unterricht auch der brummige Politiklehrer vor, sei die "sozial-liberale Koalition" in Bonn "nicht zu retten“.
Sie haben lange gewartet bis ihr "Gymnasium für Jungen" endlich das "Gymnasium für Jungen und Mädchen" wurde. Noch immer sind sie überwiegend unter sich. Jüngere Mädchen sind nur in Pausen zu sehen, gleichaltrige allenfalls bei den Altphilologen. Sie wollten endlich wählen! Und nicht nur endlos diskutieren. Und nun ist die Wahl so "unsexy" wie Konfirmationsunterricht.
Sie haben also "keine andere Wahl" als ausgerechnet den verabscheuten Walter Scheel zu wählen? Einen jener "alten Männer“, die schon so aussehen, als wären Wahlen ihre letzte Waffe gegen jegliche Reformen?
Was für eine Wahl! Am 19. November 1972 machte Brandt zwar die SPD erstmals in ihrer Geschichte mit fast 46 Prozent zur stärksten Bundestagsfraktion. Die FDP "gewann" aber noch "an Gewicht hinzu“, wie im Radio kommentiert wurde.
Von da an war Schweigen in der Klasse. Es war leichter zuzugeben, dass man die "kleine Meyer" nicht "rumgekriegt" hatte als zu gestehen, diese "Scheißliberalen" auch noch gewählt zu haben.
Das Abitur wurde ein Jahr später in einer "Reformierten Oberstufe" zur Qual. Sie "streikten" in den schäbigen Pavillons, die für Kurse wie den ihren aufgestellt worden waren. Sie diskutierten nachmittags im Hinterzimmer einer nahen ehemaligen Bäckerei über gerechtere "Chancen" zur Bildung. Dies "Salvador-Allende-Zentrum" beherbergte die "Arbeitsgruppe gegen den Numerus Clausus (NC)“. Am 11.9. 1973 hatte die CIA in Chile einen Putsch gegen den gewählten Präsidenten Allende angezettelt. Seither hatte das Terrorregime des eingesetzten Generals Pinochets ungezählte Oppositionelle ermordet. Darüber redeten sie im Winter 1973 mehr als über ihre Studienabsichten.
Detlef warb immer noch in seinem Cordanzug für die Jungsozialisten. Wenn er sich, auch wegen der rotmähnigen Dodo, "in der NC-AG" blicken ließ, schallte ihm Hohn entgegen: War das denn die Chancengleichheit, die "seine" SPD versprochen hatte?
Sie demonstrierten statt zum Unterricht zu gehen. Sie streikten, um Änderungen in der Notenbewertung durchzusetzen. Es sei schön und gut, dass "auch Arbeiterkinder" künftig studieren können sollten. Aber dass diese Art Abitur auch "siebe" und "sowieso nicht" auf das Studium vorbereite, argwöhnten sie.
Plötzlich war alles nichts mehr wert, wovon sie noch vor kurzem leidenschaftlich geträumt hatten. An Sonntagen war wegen der "Ölkrise" sogar das Autofahren verboten. Die arabischen Staaten hatten vom Oktober 1973 bis März 1974 "den Hahn zugedreht“. Die in Bagdad gegründete OPEC "boykottierte" wegen des Jom-Kippur-Krieges die "Israel-freundlichen" Länder.
So liefen sie Anfang 1974 auseinander, um eine Lehre zu beginnen, zu heiraten, zu studieren, ihr Leben aufzubauen. Nur Raimond ging in den Wald, um zu sterben. Einen Stielkamm hätte von da an keiner mehr aufgehoben.
Erst später erfuhren sie, dass der Harburger Bundestagsabgeordnete Herbert Wehner den "Abstimmungserfolg" für Willy Brandt hinter den Kulissen diskret besorgt hatte. Zwar waren zuvor einige FDP-Abgeordnete zur CDU übergelaufen und hatten so erst das "Misstrauensvotum" ermöglicht. Doch der hatte wieder andere Abgeordnete dazu gebracht, "mit der Koalition zu stimmen" und das "Vertrauen auszusprechen“, wie es im Bundestagsdeutsch hieß.
Da hätten sie im Frühjahr 1972, als es ihnen auf den Nägeln brannte, wählen können, was sie gewollt hätten! Egal. Wenn Abgeordnete mauschelten statt offen zu sagen, wofür und für wen sie einstehen. Das sagte keiner "ich" – aber "die" meinten es nur so!
Sie trauerten. Abends war sowieso kein Platz für sie. Sie trafen sich bei den Kanonen am Kaiserdenkmal, um Flaschenbier zu trinken. Oder sie setzen sich auf den "Heldenfriedhof" im Park drumherum. Die deutsche Nachkriegsdemokratie lief wohl ein wenig anders als ihnen der Zopfpullover erzählt hatte.
Das hatten sie schon geahnt, als sie im Spätherbst 1972 plötzlich wählen "mussten“, was sie nicht wählen wollten. Aber es war ja für Willy! Es ging um die Träume vom Aufbruch, von Änderung.
Nun saßen einige in überfüllten Hörsälen. Die Stühle sahen aus, als wären sie aus den reformierten Schulen ausgemustert und den Universitäten überlassen worden, weil Schüler vor ihrer "Reifeprüfung" nur noch auf Tischen saßen,. Das narbige Holz der langen Uni-Tische war kaum zu sehen unter gezackten roten oder schwarzen Sternen, unter Signaturen wie "Yes“, "Genesis“, "Baader-Meinhof" und "Macht kaputt, was Euch kaputt macht“.
Nur wenige aus "der Clique" der "Ebert-Schule" trafen sich nachmittags oder abends noch. Die "NC-Gruppe" war aufgelöst. Die Autos waren bloß noch Transportmittel zur Bundeswehr oder zur Uni in der Ferne oder zum Wäscheholen bei Muttern.
Dann saßen sie meist noch spät nachts in der neuen verrauchten Kneipe, die "Antagon" hieß, weil es keinen weiteren "-ismus" geben sollte. Als Willy Brandt am 6. Mai 1974 vom Amt des Bundeskanzlers zurücktrat, gab es dort eine "kleine Lokalrunde“. Es war kein Triumphieren. Sie waren doch keine "Scheißliberalen“. Es war auch keine Beerdigung Brandts. Der hatte das Amt an Helmut Schmidt weitergereicht; die SPD blieb Regierungspartei. Es war ein Kater, den sie sich selbst zufügen wollten: Wenn sie wenigstens jetzt hätten dürfen, nur jetzt mal – den Abgeordneten Helmut Schmidt hätten sie jedenfalls nie gewählt! Den nicht! Da fühlten sie sich 1974 erstmals "frei" genug zu wählen und nicht zu müssen – und hätten gar nicht mehr gewusst, wen ...
Plötzlich bekannten sich Einige hinter vorgehaltener Hand: Sie hätten sich nun "organisiert" - im "Kommunistischen Bund" (KB), im "Kommunistischen Bund Westdeutschlands" (KBW), in der "KPD“, mal mit angehängtem "AO" für "Aufbauorganisation" oder mit "ML" für "Marxismus-Leninismus“. Es war für Außenstehende noch undurchschaubarer als hätten sie sich der FDP-Bundestagsfraktion angeschlossen.
So diskutiert wie damals in der Schule wurde kaum mehr. Denn einige wollten sogar Lehrer werden. Aber sie fürchteten "Berufsverbote“. Nachträglich verfluchten sie Willy Brandt, ihr Idol. Er hatte mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer am 28. Januar 1972 "Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremistischen Organisationen” vereinbart. Seither wurden beim Verfassungsschutz "Regelanfragen" gemacht, wenn jemand Beamter werden wollte. Und sei es nur bei der Post. Da hätte ihr Zopfpullover keine Chance gehabt, "die Jugend zu verderben“, wie es Stammtischreden gerne hieß.
Einige der heimlichen Bekenner führten nun ihrerseits Dossiers: Über die "politische Zuverlässigkeit" anderer. "Genossinnen" mussten sich vorm Plenum ihrer sozialistischen Sekte rechtfertigen, warum sie Umgang mit "Spontis" pflegten. Die "Gruppe Internationaler Marxisten" (GIM) hatte die Attraktivsten. Verärgert bemerkten das viele Revolutionäre zu spät.
Da war es "nebensächlich“, dass der junge rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl mit seinem CDU-Vorsitz ab 1973 allmählich die Nachfolge Rainer Barzels antrat. Es war egal, dass Walter Scheel am 15. Mai 1974, wenige Tage nach dem Rücktritt Brandt ins nun wohligere Amt des Bundespräsidenten wechselte.
Es erschien ihnen geradezu "folgerichtig“, dass ein "Macher" wie Helmut Schmidt den "Lebemann" Brandt ablöste, der Flakhelfer den Widerständler – ohne Wahlen. Über so einen "Technokraten" redeten sie nicht. Sein Kommißton missfiel. Eine andere Sprache wurde auf einmal in Deutschland gesprochen. Da konnten sie nicht mehr mitreden. Sie verstanden einander schon selber kaum noch.
Von "Sachzwängen" war bei "denen in Bonn“, den "Bonnzen“, nur noch die Rede. Von der Unmöglichkeit zu reformieren, weil die Haushalte wegen der Wirtschaftskrise nach dem "Ölschock" und der hohen Arbeitslosigkeit es nicht hergäben.
Aber es war nicht mehr die Rede davon, dass sie "Willy gewählt" und nun "Schmidt-Schnauze" bekommen hatten. Die kleine Familie trug es sich bei Wiedersehensfesten Fehltritte nicht nach.
Jens kam wenig später auf der Autobahn zu Tode, die "kleine Meyer" auf der Bundesstraße.
Wieder erfuhren sie erst viel später, dass "ihr" Harburger Bundestagsabgeordnete Herbert Wehner den Abgang Willy Brandts hinter den Kulissen diskret lanciert hatte. Ihm bade der Herr "zu lauwarm“, sagte er Journalisten bei einem Moskau-Besuch. Er, dem sie ausgerechnet ihre "Erststimme" gegeben hatten, hoffte auf Schmidt. So wie sie auf Brandt gehofft und doch für Wehner und Scheel gestimmt hatten ...
In der CDU setzten sie nun auf Helmut Kohl als Kanzlerkandidaten. Am 3. Oktober 1976 wurde die wieder die stärkste Bundestagsfraktion.
Am Hochgefühl der SPD kratzte es wenig, nach nur vier Jahren diese Parlamentsposition zu verlieren. Denn die parlamentarische Opposition konnte die "sozialliberale Koalition“, die mit den entscheidenden Stimmen der Erstwähler aufgrund der Reform-Versprechen 1972 "gestärkt" worden war, "nicht ablösen“, wie die politischen Auguren unkten.
Obwohl die Reform-Versprechen erkennbar längst gebrochen waren, gäbe es "wieder keine andere Wahl" für die Reformwilligen: Die Willy-Jünger in Harburg wählten achselzuckend nochmal Herbert Wehner – und damit dessen Kronprinzen Helmut Schmidt. Mit der Zweitstimme "musste" nach der eingebläuten Wahlarithmetik wieder die FDP ein Kreuzchen bekommen. Vielleicht ging es mit den Reformen doch noch weiter! Davon träumten sogar die noch, die längst von der "Revolution" und "Sozialismus" schwadronierten.
Inzwischen waren offiziell über eine halbe Millionen Bürger "überprüft" worden, ob sie am Ende gar "Verfassungsfeinde" seien und "nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes" stünden. Die "Deutsche Kommunistische Partei" aber fand beim Wähler proportional weniger Beachtung als bei den "Sicherheitsorganen“. Sie war mit ihrem Wahlergebnis von 0,3 Prozent gerade mal gleich auf mit der NPD, die vor Brandts Amtsantritt bei den Bundestagswahlen 1969 mit 4,3 Prozent noch recht "gesellschaftsfähig" war. Anlass für Überprüfungen hatte das nicht gegeben. Selbst für die, die die DKP mit ihrer DDR-Treue und andere "K-Gruppen" mit ihren Vorbildern in China, Albanien oder Libyen eher folkloristisch belächelten, war es allerdings schwer verständlich, warum "der Staat" nach links die Zähne bleckte und "auf dem rechten Auge blind" war. Jahrelang hatten sie gegen den NPD-Mann Jahn als Lehrer abgelehnt; die Mädchen mochten sein Gefummel nicht, manchen Müttern kam es recht.
Kohl gab sein Amt als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz ab und wurde Mitglied des Bundestags. Er wollte die Opposition zum nächsten Wahlsieg führen. Das wurde im "Antagon" unter den alten Schulfreunden weniger belächelt als der Fortgang Volker Rühes von der "Ebertschule" zur CDU-Fraktion in den Bundestag. Ihn hatten sie als Deutschlehrer nie gemocht. Aber es war eine "schöne Zeit" gewesen, als er mit ihnen Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" las – sie rangen ihm im Gegenzug Heinrich Böll Restaurationsroman "Ansichten eines Clowns" und das "Ende einer Dienstfahrt" als Deutschthemen ab. Nun prosteten sie überschwänglich auf sein Wohl und erzählten einander, wie an ihren Unis die Streiks wegen der schlechten Ausstattung, der Überfüllung und der alten Ordinarien-Zöpfe "so liefen“. Drei hatten sogar ein Politikstudium aufgenommen.
In den folgenden Jahren trafen manche einander auf Wiesen wieder. Hubschrauber kreisten über ihnen. Mal war es bei Brokdorf an der Unterelbe, mal bei Kalkar. Einige kampierten nächtelang in hessischem Forst, wo die "Startbahn-West" entstehen sollte. Andere beantragten eine "Staatsangehörigkeit" in der "Republik Freies Wendland“, wo Atommüll abgelagert werden sollte.
Alle waren inzwischen den Blick in die Läufe von Maschinenpistolen gewohnt. Seit 1977 vereiste das Land rasch nach einem "Bleiernen Herbst“. Der Name Helmut Schmidt stand inzwischen gleichbedeutend für den "Polizeistaat“, den "Atomstaat" und den unethisch schrankenlosen "Machbarkeitswahn“. Der CSU-Chef Franz-Josef Strauß habe in seinem Krisenstab die "Erschießung" von Gefangenen der "Roten Armee Fraktion" vorgeschlagen, wurde im Winter gemunkelt nach den Toden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im "Hochsicherheitsgefängnis" Stuttgart-Stammheim.
Schließlich hatte Helmut Schmidt sogar den "NATO-Doppelbeschluss" am 12. Dezember 1979 bewirkt, der die “Modernisierung" und Neuaufstellung von atomaren "Mittelstreckenwaffen" vorsah.
War das nach nicht einmal einem Jahrzehnt noch die "Entspannungspolitik“, mit der Brandt sie als "Erstwähler" gewonnen hatte? Am 12. August 1970 hatte er den "Moskauer Vertrag über Gewaltverzicht und Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen” unterzeichnet, in dem die Bundesrepublik de facto die polnische Westgrenze anerkannte und auf ihren "Alleinvertretungsanspruch" für alle Deutschen verzichtete. Am 7. Dezember 1970 folgte der "Warschauer Vertrag" mit Polen, in dem die Bundesrepublik die "Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze" entlang der Oder-Neiße-Linie garantierte. Am 17. Mai 1972 passierten die "Ostverträge" den Bundestag. Nach der Ratifizierung dieser drei Ostverträge konnte auch das von allen Fraktionen begrüßte "Viermächteabkommen" über Berlin von 1971, dem die Sowjetunion aber bis zur Ratifizierung der Ostverträge die Unterschrift verweigert hatte, in Kraft treten. Am 21. Dezember 1972 schlossen die Bundesrepublik und die DDR nach langwierigen Verhandlungen den "Grundlagenvertrag“. Wesentlicher Punkt des Vertrages war die "Anerkennung der DDR" als "selbständiger Staat“. Der "Grundlagenvertrag" passierte erst am 11. Mai 1973 den Bundestag. Als letzten Ostvertrag unterzeichnete Brandt am 11. Dezember 1973 in Prag den deutsch-tschechoslowakischen "Prager Vertrag“. Die Bundesrepublik erklärte darin u. a. das "Münchner Abkommen" von 1938 für nichtig. Es war eine klare Linie. Sie hatten doch alles mitverfolgt!
Und nun sollten auf einmal Atom-Raketen entlang der innerdeutschen Grenze diesen ausgehandelten Frieden mit Militärmacht sichern? Raketen, die nur so weit reichten, dass die DDR und Teile Polens atomar ausgelöscht würden?
Die Gespräche unter den alten Schulfreunden wurden immer bizarrer. Erinnerte man sich völlig falsch? Hatte man mit dem zähneknirschenden Wählen nicht eine ganz andere Politik als die "atomare Abschreckung" unterstützen wollen? Sollte man sich mal mit dem alten Politiklehrer treffen? Vielleicht wisse der mit seiner Ruhe und dem sanften Pragmatismus eine Antwort.
Besonders verrückt wurde das Gespräch mit jenen, die nun in der DKP gönnerhaft "Hilfe" bei der Vorbereitung von "Friedensdemos" gewährten. Die von der Sowjetunion bereits im Osten Deutschlands aufgebauten neuen "Mittelstreckenraketen" redeten sie harmlos – ganz so wie Walter Ulbricht ja "nie" und nimmer eine Mauer hatte bauen wollen und Erich Honecker in dem Niegebauten auch allenfalls einen "anti-faschistischen Schutzwall" erkennen konnte.
Desto unglaublicher wurden die Bundestagswahlen 1980 für die Übriggebliebenen, die politisch und nicht egozentrisch "Ich" sagen wollten. Da kandidierten erstmals "Die Grünen" als Sammelbecken, als Versuch, wieder zusammenzuführen zu einer "Aufbruchstimmung“, wie es hieß: Viele der "K-Grupplern" wollten nicht länger "außerparlamentarische Opposition" sein; ihr "revolutionärer Elan" war reichlich schnell verebbt. Sie hatten sich mit "Autonomen“, versprengten "Wertkonservativen" aus der CDU und Bürgerinitiativen aller Art zusammen getan. Die vorgehaltene Hand war bei dieser "Bürgerbewegung" das heimliche Markenzeichen, als wäre es das selbstverständliche Gegenstück zum inzwischen gewohnten "Ausspionieren“.
In Bonn hatte "die Friedensbewegung“, von DKP und Grünen gelenkt, gegen Helmut Schmidt demonstriert. Doch gewählt wurde 1980 mit der "zweiten Stimme" wie 1972: Die FDP erreichte nach 1961(12,8 %) und 1949 (11,9 %) sogar mit 10,6 Prozent das dritthöchste Ergebnis ihrer launigen Geschichte. Dies reichte der SPD mit ihren 42,9 wiederum, die "sozialliberale Koalition" vorgeblich "fortzusetzen“.
Da hatten die meisten aus dem alten Politikkurs das Studium schon hinter sich. Der dicke Detlef hatte sogar schon mit einer Arbeit über die frühe Geschichte der SPD promoviert. Und doch glaubten sie wieder an die alte "Wahlregel“: Wer etwas will, muss auch mal ganz anderes wählen.
Besonders, wenn er irgendwas oder irgendjemand nicht will. Denn Franz-Josef Strauß hatte Kohl von der Kanzler-Kandidatur verdrängt. Strauß, der keineswegs klammheimliche Sympathisant des Generals Pinochets, er, der Schriftsteller im NS-Ton als "Ratten" und "Schmeißfliegen" verfluchte. Ihn zu "verhindern“, war, wie Scheel zu wählen um Willy zu behalten. Nur dass "Stoppt Strauß!“, wie es nun auf den Buttons hieß, eine weitere Regierungszeit Schmidts bedeutete – gegen den man "draußen" demonstrierte.
Die Grünen, die die versprengten "Politisierten" von 1972 damals hätten wählen mögen, bekamen gerade 1,5 Prozent.
Wer immer wieder nicht wählt, was er wählen möchte, wer nicht glaubt, überhaupt eine andere Wahl zu haben als eine ungewünschte, schlechte, der wundert sich bald gar nicht mehr. Am 1. Oktober 1982 war es wieder wie zehn Jahre zuvor – als sie noch nicht wählen duften und selbst, wenn sie hätten wählen können, nichts zu ändern gewesen wäre.
Sie hatten 1980 mit ihren Stimmen für den ewigen Wehner und die FDP eine versprochene "sozialliberale Koalition" gewählt: Aber wieder wandelten FDP-Abgeordnete zur CDU. Durch ein "konstruktives Misstrauensvotum" stürzte die CDU/CSU, diesmal offen gemeinsam mit der FDP, endlich einen Bundeskanzler. Sie bestimmten, wie heimlich besprochen, inmitten der Legislaturperiode einfach den Abgeordneten Helmut Kohl zum neuen Bundeskanzler – nicht etwa Strauß, der sich zumindest noch den Wählern gestellt hatte. So bekamen die, die Genscher gewählt hatten, um Strauß zu verhindern, am Ende den von ihm ausgestochenen Kohl. Wen will das schon kratzen, der sich "seine" Wahl zuvor so schlau zurecht gelegt hatte?
Wehner, der in Harburg erstgewählte Strippenzieher und "Zuchtmeister" der SPD, hatte es nicht abbiegen können. Sogar der zweite Teil des nochmaligen Schurkenstückes spielte ohne ihn. Wieder fand – wie bei Brandt – im Bundestag eine "Vertrauensabstimmung" statt. Doch der Kanzler Kohl stellte die "Vertrauensfrage" nicht, weil er sich von Abtrünnigen hintergangen sah, sondern weil er sie fest hinter sich wusste. Am 17. Dezember 1982 "verlor" er, der anders als Brandt die Parlamentsmehrheit hinter sich wusste, gleichwohl wie jener die Abstimmung. Hätten es sich kommende Erstwähler im Unterricht live angesehen – sie hätten wohl viele Fragen an den Politikunterricht haben müssen, die ihren Schulvorgänger in deren naiver Demokratiebegeisterung und Grundgesetzgläubigkeit nie eingefallen wären. Aber in der "Ebertschule" sah sich das niemand mehr mit an. Wie sollte man unterrichten, dass sich ein Kanzler von seiner eigenen Parlamentsmehrheit das "Misstrauen" aussprechen lassen müsse, wenn er partout als Kanzlerkandidat vor den Wähler treten wolle, der gerade anders entschieden hatte, gegen einen Kandidaten Strauß, der ihn weggebissen hatte.
Damit war "der Weg für die Auflösung des Bundestages" und "vorgezogene Neuwahlen frei“, wie es die meisten Journalisten gleichlautend zum Jahreswechsel 1982 auf 83 tönten – als hätte der Wähler mit seinen Kreuzchen zwei Jahre zuvor unüberwindliche Barrikaden aufgebaut, um sich den Weg für Wahlen zu versperren, endlich das zu wählen, was er zuvor vergeigt hatte.
Wozu da überhaupt noch Wählen? Manchmal verfolgte jene paar ersten Abgänger der "Reformierten Oberstufe" der Alptraum, sie müssten das Abitur wiederholen, weil die Änderung wie so vieles widerrufen worden sei. Alle Kurse müssten sie nochmal durchlaufen. Einer begab sich gar in Behandlung, weil er stets schweißgebadet aufwachte, wenn die feiste Englischlehrerin im Schottenfaltenrock ihn mit "So nicht, Doktorchen, das Tie-Ehtsch können wir doch besser!" rüffelte.
Drei überlegten in der Kneipe, wie es nun bei diesem "Misstrauensvotum" wohl mit ihnen in der "Ebertschule" wäre: Statt still zu sitzen und ungläubig in den Fernseher zu sehen, stünden sie im Politikunterricht auf den Tischen und würden das "Grundgesetz" begeistert rezitieren wie verschworene College-Studenten. Statt irgendwelcher grüner Parteien würden sie den "Club der toten Politiker" gründen. Wir bauen ein Haus den Knochen von Willy Brandt!
Was war da bloß geschehen? Im Frühjahr 1974 hätten sie doch noch so gerne wählen wollen! Wenigstens, um Helmut Schmidt als ungeliebten Nachfolger Brandts zu verhindern. Danach aber hatten sie zweimal unwillig den Königmacher Wehner und damit Schmidt gewählt.
Die Ersten, die mit Achtzehn wählen durften, waren inzwischen um die Dreißig. Nun galt dank Helmut Kohl das erste Mal nach drei missmutigen Wahlen nicht mehr das Argument, man müsse notfalls auch gegen seine Überzeugung mit der zweiten Stimme FDP wählen, um eine restaurative CDU-Politik zu verhindern. Sie fühlten sich erstmals "mündig“. Aber es hatte ihnen längst die Sprache verschlagen.
So lief es auch am 6. März 1983 für sie nicht viel anders als ehedem: Seit 1974 war Hans-Ulrich Klose als Vertreter der konservativen Sozialdemokraten vom Schlage Schmidt der Hamburger Bürgermeister gewesen. 1981 stolperte er über seine halbherzigen Zweifel am Ausbau der Atomkraftwerke rund um die Hansestadt. Nun löste er Herbert Wehner in dem als "sicher" geltenden Harburger Bundestagswahlkreis ab. Ihn nicht zu wählen, hieße wahlarithmetisch, die Chance des Gegenkandidaten Rühe zu stärken, der sich 1980 für Strauß stark gemacht hatte. So ratterten die Gedanken in ihnen und sie hörten sich bei dieser Selbstlüge schon nicht mehr zu.
Mit der zweiten Stimme hätte man andererseits diesmal sogar die SPD wählen können, wenn einem deren Ziele denn noch lagen. Doch welche Ziele waren es 1983? Mehr Atomkraftwerke, mehr Atombomben, weniger Arbeitsplätze? Wer war der Mensch, der für Ziele von Sozialdemokraten stand? Für Helmut Schmidt, der vom Bundeskanzleramt zur Wochenzeitung "Die Zeit" wechselte, war der staubtrockene Jurist Hans-Jochen Vogel angetreten. Unter Schmidt verkörperte er bis 1981 als Justizminister nicht gerade Reformfreude. Zwar war er seither als Bürgermeister in Berlin auf den Spuren Brandts gewandelt. Aber dessen Charisma hatte er nicht im Mindesten – die SPD noch weniger.
So wählten einige erstmals plötzlich halbwegs "untaktisch“. Zwar gab es noch viele unter den Freunden, die vorrechneten, wie sinnlos es obendrein sei, die "Grünen" zu wählen: Weil diese verlorene Stimme die Rolle der FDP im Parlament noch zusätzlich stärke. Aber auf die hörte nicht mehr, wer immer nur anderes gewählt hatte als gewollt – und es mit der ersten Stimme sowieso wiederum tat.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hatte weitere Verluste von 42,9 auf 38,2 Prozent. Die Freie Demokratische Partei (FDP) sackte auf sieben Prozent. Die Grünen "übersprangen" auf einmal die Fünf-Prozent-Hürde um 0,6 %. Doch die CDU/CSU erreichte das nach 1957 (50,2 %) zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte und verfehlte mit 48,8 Prozent knapp die absolute Mehrheit. Kohl wurde als Bundeskanzler "im Amt bestätigt“, wie es in den Nachrichten anerkennend hieß. Vergessen binnen weniger Wochen das abgesprochene "Misstrauensvotum" und die abgekartete "Vertrauensfrage“, die "Jungwählern" seit einem Jahrzehnt politisches Alpdrücken auslöste.
Erst in ihrer Enttäuschung nach dieser "Wende-Wahl" merkten manche jener Willywähler im Ruhestand, wie sehr sie sich bereits in ihrer jungen Begeisterung für eine vorgebliche sozialdemokratische Reform-Politik getäuscht hatte. Schon während der Schulzeit hatte so mancher aus der Oberstufe mit der "Jungen Union" geliebäugelt, aber nicht einmal im Unterricht bei Volker Rühe bekennen mögen. Auch interessierte Andere alles andere als Politik. Von Demokratie wollten sie nur soviel wissen, wie es gerade Mode war. Und modisch war das "anpolitisiert sein" schon. Die Stimmung war vor dreißig Jahren so, als wären doch alle Menschen Stones-Fans statt einige auch heimliche Elton-John-Jünger. Dabei waren dessen Nummern wie Crocodile Rock (1973) und The Bitch Is Back (1974) die gerne übersehenen Hits – und nicht statt die von 1971 aufbewahrte Partymusik Sympathy for the Devil oder Streetfighting Man. Man musste nur genau hinhören. Zwischen 1972 und 1975 standen sieben der Elton-John-Alben an der Spitze der britischen Charts. Der Sound der Zeit war bereits ein anderer: Abba beispielsweise wurden 1972 gegründete, 1974 gewannen sie den Grand Prix. Es war das Waterloo der "Underground“- und "Progressive-Rock“-Anhänger.
Die wenigen, aber dominanten politisierten Nach-„Achtundsechziger“, die erst spät frustriert und nur kurz zur "außerparlamentarischen Opposition" fanden, bemerkten es nicht. Sie hielten "Politik" für den Sound der Zeit. Das deutsche Fernsehen zeigte ihnen noch 1972 mit kurioser Zeitverzögerung ein Bild von einer "jugendlichen Subkultur“, das schon damals so wirklichkeitsfremd und unpolitisch war wie die heutigen "Musikantenstadel“.
Sie hatten auch nicht mitgekriegt, wie sehr sie sich die Demokratie in Zahlenspielen betoniert hatten. Wie sehr sie Politik mit erhofften oder befürchteten Wahlergebnissen verwechselten. Wie "eigentlich" Inhalte ihnen vorgeblich über Ämter ging – und sie sich statt der Inhalte doch mehr um Amtsinhaber sorgten, die ihnen zuwider waren. "Das sind doch alles keine Analysen, meine Herren," schimpfte Heinz, der frischgebackene "Politologie-Assi“, der solche "bierseligen Reden" so satt hatte wie seine "unpolitischen Semester“, von denen "keine Fragen mehr" kämen. Es waren Eingeständnisse, die das "ich" im Satz kaum ertrugen.
Da brauchte es gar keine groß angekündigte "geistig-moralische Wende" ab 1983. Denn wen oder was wollte ein Kanzler Kohl da in der Bundesrepublik Deutschland "wenden“? Die Seinen ja wohl kaum. "Die Mehrheit" der Deutschen, von der er sich gewählt glaubte?
Die anderen, die sich vor lauter Taktiererei und Tricks seit dem letzten großen "Wechsel" 1969 in der Macht wähnten, waren ja nicht zu ändern. Sie konnten nicht einmal sich, andere oder anderes ändern. Sonst hätten sie es ja mit ihren Wahlaufträgen über die Siebziger Jahre tun können.
Nichts wendete sich in den Achtzigern, es ging so weiter. Die alten Freunde amüsierte es. Zwar war ihre Kneipe inzwischen Pleite gegangen, obwohl sie einen Umsatz hatte wie keine andere weit und breit. Das war wohl ein alltäglicher Antagonismus.
Aber wenn man sich traf, amüsierte man sich über den Eifer in Bonn. Es war ihnen, als wären da welche wie sie am Werk, die auch vor lauter Wunsch, etwas ändern zu mögen, nicht den rechten Weg fanden, aber unbeirrt fort schritten.
Die sechzehn Jahre der Kohl-Regentschaft mit der FDP verstrich im Fluge. Entgegen aller Wahlversprechen stieg die Arbeitslosigkeit so stetig wie die Staatsverschuldung. "Die Renten" wurden in allen folgenden Wahlkämpfen als "sicher" angebetet. Aber die Kassen wurden mit Klauen leergeschaufelt für "Frühpensionierungen“, "Spätaussiedler" und schließlich die komplette Aufnahme der DDR in diese Versicherung, in die aus deren "selbständigem Staat" nie eingezahlt worden war.
Detlef war längst Politikprofessor. Zwei hatten in Sozialpsychologie habilitiert, einer ausgerechnet in Sportwissenschaften. Einer war an Aids gestorben, einer an Krebs, einer an Hirnschlag. Eine Herzoperation war gerade noch "gut gegangen“, ein Lungenschnitt vergeblich. Einer trank quartalsweise.
Doch sonst amüsierten sie sich: Dass die "Deutsche Wiedervereinigung" einen saumseligen Willy Brandt schunkelnd mit Helmut Kohl sah. Dass später als Staatsfeiertag der Deutschen wie zufällig der 3. Oktober ausgeguckt wurde, jener Tag, an dem Helmut Kohl erstmals hätte Kanzler der Bundesrepublik werden können.
Sie feixten, als die Grünen 1990 nur noch 3,8 Prozent der Stimmen erreichten, aber stattdessen ost-deutsche "Bürgerrechtler" mit gerademal 1,2 Prozent im Bundestag landeten. Auch die "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS), die Nachfolge-Organisation der SED, schaffte es trotz magerer 2,4 Prozent dank "Freibrief“, wie sie es nannten, unter der Hürde durch in den Bundestag.
Aber trotz ihres Abstandes ging ihr "langer Marsch" nicht "durch die Institutionen“, wie ihn die Jusos und Reformkommunisten vom Schlage Gerhard Schröders oder Uwe Benneter gepredigt hatten, sondern von der Wahlmündigkeit zur Wahlmüdigkeit unerwartet weiter. Der "Regierungswechsel" 1998 auf "Rot-Grün" verdutzte und amüsierte sie.
Die Verbliebenen waren bald um die Fünfzig. Das letzte Klassentreffen im Herbst 2003 in einem anthroposophischen Kulturzentrum war so ausgelassen wie ein Leichenschmaus. Ihre Lebenswege taugten nicht für eine Politik, von der sie angenommen hatten, sie würde alles "durchdringen“.
Alles mochte ja "am Ende" irgendwie "politisch" sein. Die "Biographien" der Politiker sahen völlig anders aus. Ein Politiker, der – als sie damals noch über derlei Lebenssätze stritten – wie ein Range am Tor zum Kanzleramt rüttelte. Einer, der mit seinen Kameraden Polizisten überfiel und prügelte. Nun sollte der eine die "Würde" des Kanzleramtes verkörpern, der andere als Vizekanzler "angstfrei" auftreten, wenn sein Leben von Polizisten abhing?
„Würde" und "Angstfreiheit“, das hatten sie in der "Ebertschule" eingepaukt bekommen, waren die Leitmotive zwischen den Zeilen des Grundgesetzes. Aber das Zopfmuster war längst tot. "Herzattacke im Klassenzimmer“, murmelte einer, der "irgendwie so etwas" gehört haben wollte. "Der Wolf“, wie sie ihn damals hinter seinem Rücken nannten, obwohl er ein Schafsfell trug, habe einige "Nazisprüche" seiner Schüler "einfach nicht mehr ausgehalten“: Umgefallen – und tot.
Und sie? Waren sie auch schon umgefallen? Sie waren sich immer weniger sicher. Was solle beispielsweise der Politologe, der das damals schon hatte werden wollen, um nichts weniger als "den Geist der Reformen" voranzutragen, seinen neuen Studenten noch vermitteln – jenen, die in ihrer ganzen Jugend keinen anderen Kanzler als Kohl kannten. Die wussten zumindest, dass Skandale und Pannen solch eine Regierung nicht änderten. Und diese Regierungen hatten als einzige bleibende Großtat das "Privatfernsehen" eingeführt. Sollte er sie lehren, wozu ihre erste und wozu die zweite Stimme gut seien?
Was sollte andererseits der schüttere Publizist unter ihnen seinen jungen Studenten sagen, wie zu vermitteln sei, dass die SPD einen Vogel, einen Engholm, einen Scharping, einen Lafontaine und einen Schröder zum Kanzler wählen lassen wollte. Den einen mal mehr, den anderen mal weniger, kombiniert oder allein. Wozu bloß? Was war da noch die "Kanzlerwahl“, die einem Leser oder Hörer zu verdeutlichen wäre?
Sollten sie ernsthaft noch von "Politik" reden, wenn sich ein stramm Rechter wie Manfred Kanther "jüdische Erben" für Schwarzgeld herbeilog? Wenn Kohl meinte, sein "Ehrenwort" stehe wie bei allen Pfadfindern über Verfassung und Gesetzen, bloß weil er Geld wusch für Leute, die das angeblich zur Bedingung ihrer schwarzen Parteifinanzierung machten? Sollten sie lachen, dass grüne Abgeordnete oder der Bundesverteidigungsminister Scharping sich von einem rechten Public-Relation-Mann aushalten ließen? Sollten sie greinen, dass K-Splittergruppler plötzlich als Bundesaußenamtler endlich auf Kosten des Steuerzahlers nach China oder Libyen flogen, zu deren ehemaligen Vorbildern? Wen störten noch Ämterhäufung bei ehemals "Alternativen“, wen noch “Beraterverträge" von ehemaligen Spontis mit Versicherungskonzernen?
Das waren doch "alles nur Kleinigkeiten“! Das war doch "nur Politik als Geschäft statt das Geschäft der Politik“. So beruhigte sich der altgewordene Politologe. Sein Dozentenvertrag an der Universität würde bald auslaufen zugunsten zweier "Juniorprofessuren“. Aber der Publizist murrte gleich, dass er jedenfalls davon gut lebe. Je mehr Skandale und Unglaubwürdigkeiten, desto reger die Demokratie – jedenfalls die Aufgeschriebene.
„Sagst Du noch manchmal ich, wenn du von Politik schreibst," fragte "Matte" amüsiert.
Sie wurden sich wieder einig. Wer "als Demokrat" wollte sich schon noch für einen Kanzler einsetzen, der ständig den Seinen mit Rücktritt drohe statt "Vertrauen" gegenüber der Opposition zu erstreiten – wer für ihn gar sich "engagieren“? Für einen, der gerne "Basta!" sagt. Wer würde überhaupt noch das Wort ergreifen für so einen oder gar dem die ganze Stimme geben? Wer wollte wie ein Märchenerzähler berichten, dass es für einen Kanzler gefährlich sein könne, seinem Fraktionsvorsitzenden sein Schicksal anzuvertrauen wie weiland Brandt dem bösen "Onkel Herbert" – und nun der Schröder dem braven "Münte“? Es waren ja alles keine "historischen Wahrheiten“, von denen sie mal geschwärmt hatten. Es waren bloß Geschichten, keine Geschichte.
Schlimmer war, dass manches in der Politik so wurde wie es ehemals war und werden sollte bevor die große "Reformpolitik" sie euphorisierte: Dass deutsche Truppen wieder im Ausland stehen und sich an Kriegseinsätzen beteiligten.
Schlimmer, dass manches so wurde wie es politisch gerade nicht hatte sein sollen: Dass Stromkonzerne – statt Atomkraftwerke abzuschalten bevor noch eines explodiert – eine jahrzehntelange gesetzliche Garantie für deren "Betrieb" bekamen. Dass aus dem "Mädchen" des Kanzlers Kohl, Angela Merkel, ein Mädchen-für-alles wurde, das ausgerechnet ihre Union als "Reformpartei" darstellte.
Schlimmer war, dass alles so blieb, wie es war. Hans-Ulrich Klose hat auch in 2004 immer noch Harburg als Bundestagswahlkreis. So wie seine Amtsnachfolger im Hamburger Bürgermeisteramt sich ihren bequemen Landtagswahlsitz immer dort nahmen. In Harburg-Wilhelmsburg beispielsweise.
Einmal hat der Politik-Imitator Ronald Barnabaß Schill sie erschreckt, weil er 2001 weit über dreißig Prozent der Wähler in jenem Wahlbezirk "gewann“. Da kam im Stadtteil kurz Angst auf, dass dieser Populist es besser als die SPD könne, die längst Wahlmüden dazu zu bringen, dennoch zu wählen – und sogar anders als ehemals.
Doch inzwischen glaubt die lokale SPD schon wieder fest, dass solche Schreckgespenster ihrer alten Ordnung nicht wieder auftauchen. Dabei haben sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht gemerkt, dass inzwischen selbst Demokratiebegeisterte vollends wahlmüde geworden sind. So oft wie in keinem anderen Bundesland endete in Hamburg die Legislaturperiode vorzeitig. Da brauchte es kein "Misstrauensvotum" oder eine "Vertrauensfrage“. Alles längst verspielt, alles alte Theaterroutine.
Die Parteien wechselten auch in anderen Bundesländern gerne ohne Wähler, ob Johannes Rau nach Berlin geht und "seinen" Clement zum Ministerpräsidenten macht. Oder der dann nach Berlin umzog und seinen Nachfolger inthronisierte. Ob Schröder den Gabriel kürte, ob Scharping den Beck, ob Lafontaine Wen-auch-immer, ob Stolpe den, ob Biedenkopf jenen – ob, ob, ob, das hatte der Wähler längst nicht mehr zu entscheiden.
Nun war, im Februar 2004 schon wieder eine Wahl in Hamburg, wo das "Vertrauen" für Politik nicht mehr vorhanden war. Ole von Beust hatte es diesmal in mehreren Anläufen ist seinem Wunschpartner Schill beziehungsweise der "Partei Rechtsstaatlicher Offensive" aufgekündigt, mit der er zwei Jahre regierte. Er wurde dafür wiedergewählt; Schill landete knapp im Harburger Bezirksparlament.
Die Regierenden bescheinigten sich selbst ihr Misstrauen gegen sich selbst. Sie warten nicht erst auf einen Antrag oder eine Intrige der Opposition. 1982 und 1986 brachten letztmals regulären Wahlen der CDU die Position der "stärksten Fraktion“, aber keine "Regierungsmehrheit" mit wem auch immer. 1993 entschied das Hamburgische Verfassungsgericht sogar, dass das Wählervotum von 1991 "ungültig" war – wegen einer "fehlerhaften Kandidatenaufstellung" in Hinterzimmern der CDU. In Hamburg hat sich der Biedermann Beust 2001 in die Hände von Brandstiftern begeben – und will sich deshalb folgerichtig nun nach zwei Jahren vom Wähler andere Spielgefährten bestätigen lassen. Wer "Ole" wolle, müsse nun wieder FDP wählen. So lautete ein altes Wahlgesetz, das in keiner Verfassung steht – und das diesmal zumindest für die FDP nicht aufging.
Aber die alten Jungs, die dies Spielchen lernten seit sie erstmals wählen "durften“, sind unendlich müde. Sie haben das Wort des gerade noch amtierenden Bundeskanzlers noch im Ohr, der als Jungsozialist gerne auf Fidel Castro lauschte: Es sei lediglich das Problem, wie den Wählern die Reformen "rübergebracht" würden. Ein "Vermittlungsproblem" bloß. Bei "Reformen“, die oft kaum den nächsten Tag überdauerten? Diese Reformen seien "den Menschen" allmählich auch nicht mehr zumutbar bei vierzehn Wahlen allein in 2004. Endlich nicht wählen," könnte also ein regierungsamtlicher Slogan werden – den "Reformen" zuliebe.
Kurz vor der Hamburg-Wahl, der ersten von 14 in 2004, haben sich drei der 74-Abgänger in einer Kneipe in Altona getroffen, in der manchmal auch frühere Kommilitonen sitzen, die heute in der SPD als Teil ihres "langen Marsches durch die Institutionen" die "Kernerarbeit" machen, der Walter oder der Kersten.
„Was würde man wählen“, fragt "Yogi" beim ersten Bier. Er sagt nicht "ich“. Deshalb kriegt er auch keine Antwort. Er galt in letzter Zeit sowieso als "Warmduscher" wie sein früheres Vorbild.
„Es gibt doch sowieso keine Siege mehr, nur noch Sieger," sagt Paul. Er hat den kleinen Campingfernseher aufgehoben. Sie prosten. Ja, es sei unwahrscheinlich, dass es noch etwas zu gewinnen gäbe. Eher würde "man" heute in einer Schule erschossen oder auf einer "Eliteuni" landen.
Dieses Portrait erschien 2005 gekürzt in der Zeitschrift Kunst & Kultur. Der Autor ist seit Ende der Siebziger Jahre Mitglied der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, aber keiner Partei. Die beschriebenen Personen sind anonymisiert, aber nicht a-typisch - sie haben andere Namen, aber dieselben Wesenszüge wie bei ausgedachten Figuren. Das ist das Merkwürdige.
Bitte unbedingt wieder nach oben
Aus Pickeln werden Hörnchen -
aus Bewegung wird Starrsinn
Die "Grünen" und "Alternativen" vergreisen schneller als ihre Jugendsünden vergessen wären
Rainer B. Jogschies verabschiedet sich von einer Gestus-Partei, die die "Politik des Symbolischen" einst verachtete
An einem Freitag im Dezember 2001 verabschiedete der Bundestag das "Atomausstiegsgesetz" und das "Zweite Sicherheitspaket" - mit den Stimmen der Grünen. Damit hat die einstige Anti-AKW-Partei nicht nur den Fortbestand der Kernenergie für weitere zwanzig Jahre gesetzlich garantiert, sondern zugleich mit der unkontrollierten Stärkung des Verfassungsschutzes die Grundlagen für eine künftige Kriminalisierung der Anti-AKW-Bewegung geschaffen. Anlass für eine Abrechnung eines Vordenkers hinter den Kulissen des immer toller werdenden Theaterstücks "Grün-alternative Reformen“.
Früher begann der Tag mit einer Schusswunde. Heute schlimmstenfalls mit säuselnden Sätzen von Claudia Roth im Morgenfunk.
Es kann einem den Schlaf rauben. Die GRÜNEN-Parteisprecherin möchte man so gar nicht gerne wie eine unbegabte Bauchrednerin hören, die einer leblos gewordenen Figur die schwächliche Stimme gibt.
Aber so recht lebendig sind wir morgens auch nicht gerade. Noch nie. Und seit die GRÜNEN die Bundesregierung mit Gerhard "Ich will hier rein" Schröder stellen schon gar nicht. Wir mögen uns kaum mehr wehren. Wir mögen uns kaum mehr im Spiegel und schon gar nicht in den "Spiegel" sehen seit wir "unsere" Abgeordneten ständig vor uns sehen.
Solche ersten Sätze wie der Wolf Wondratscheks von 1969 haben heute eben für GRÜNEN-Sympathisanten und -Altwähler keinen Klang mehr zwischen all den letzten Sätzen, die sie auf uns schießen. Aber um uns dröhnt es.
Vergessen ist die aufrüttelnde Stimmung, in dem Wondratscheks Roman mit dem Wunden-Tag anhob - gerade nun, wo es wieder dank Bundeswehr-Freigabe-Beschluss so sein könnte.
Was waren das auch bloß für Zeiten, denen wir da entwachsen sind: Hin zu einer "Reife“, die den Bewegten ergrauen und viele GRÜNE hat erröten lassen auf dem letzten Parteitag in Rostock am 24. November.
Die GRÜNEN seien "erwachsen" geworden, tönte es gleich nach der Roth und ihrer schmallippigen Fraktionskollegin Kerstin Müller aus den Rundfunk-Kommentaren. Sie hätten sich nun endgültig "verbogen“, wetterten andere väterliche Verdikte im Deutschlandfunk. Sie seien "in der Realität angekommen“, unkte Ruprecht Eser, der symbolisch Jackettlos-Arbeitsame. Sie hätten den "Kontakt zur Basis verloren“, hieß es bei mehreren anderen.
Nun haben die GRÜNEN, die auch aus der Anti-Atombewegung hervorgingen, gerade einen so genannten "Atomausstieg" mitbeschlossen, der vielmehr aber im Gegenteil gesetzlich noch bis zu weitere zwanzig Jahre Laufzeit garantiert. Und zugleich ermächtigten sie den Verfassungsschutz in "Zweiten Sicherheitspaket“ zum parlamentarisch kaum kontrollierten Spitzeln. Die heutigen Anti-AKW-Bewegung wird damit weiter kriminalisiert werden können als die GRÜNEN je in ihrem ehemaligen Kampf für mehr demokratische Freiheiten als Schreckensbilder phantasmagorierten.
Aber man ahnt beim morgendlichen Aufstehen - denn das politische Aufstehen scheint ja gänzlich aus der Mode -, dass der Fall wahrscheinlich viel schlimmer liegt als unter- oder oberhalb einer "Realität“, die ohne Basis, ohne Grundlage und Boden auszukommen definiert ist. Eine, in der auch mal und immer wieder "unangenehme Wahrheiten durchgesetzt" werden müssen gegen den ewig müden Wähler oder Parteigänger, jene damit indirekt und zum wiederholten Male gescholtenen "Phantasten" oder "Unberechenbaren“, die ihre Stimme zu verlieren gewohnt sind. Eine, in der auch ehemalige Weggefährten dem Staatsapparat zur Verfolgung überantwortet werden.
Auch dass das Verbogenwerden zum Erwachsensein gehöre, ist ja keine so ganz neue pädagogische und innovative lebensweisheitliche Ansicht, die nun mit Inbrunst über die Hintern der GRÜNEN gedroschen wird als sei es windows- kompatibler Bestandteil der Neuen Medien und der Neuen Mitte.
Einige ihrer Wähler dürfen ja schon mal unverbogen über die Stränge schlagen. Das ist dann wie bei den anderen, den alten Partei eine "Protestwahl“, wenn Wähler, von denen anderes erwartet würde, doch plötzlich wieder SPD, NPD oder die kleine Schill-CDU, die nun auch in Sachsen-Anhalt gegründete "Partei Rechtsstaatlicher Offensive" besser finden. Sie dürfen dann dreizehn Mal die GRÜNEN nicht mehr wählen, die alle Programmatik dem Pragmatismus opfern.
Aber sind denn die GRÜNEN damit endlich parlaments- und regierungsreife Partei? Was anders sollte denn wohl noch zur Reifung in Deutschland gehören, als dass die Jugend bewährtermaßen ihren "törichten Pazifismus" aufgäbe und sich zum Waffengang entschlösse mit einem Pathos, der selbstverständlich nichts Geringeres als die Rettung der Welt und die Befreiung von allem Übel beinhaltet?
Da brauchen sich die Alten, die es schon immer für "realistisch" hielten, dass es eben Kriege geben muss wie die Mehrwert-Steuern auf Toilettenpapier, nicht länger zu wundern, dass manche Führungs-GRÜNE wie Matthias Berninger quasseln als seien sie der Jungen Union entsprungen.
Doch was macht diese in Deutschland nicht eben ungewöhnliche Wandlung aus, solche wie die vom Saulus zum Paulus, vom Nazi zum Demokraten, vom Turnschuhkämpfer zum Chef-Diplomaten, vom Sozialisten zum Brioni-Träger?
Es genügt als plausible Erklärung bei weitem nicht, im Kasinoton das "Ende der Spaßgesellschaft" (wie der Ehren-Legionär und Talkshow-Laberhanswurst Scholl-Latour) und nun auch noch das Ende der grünen Pubertät verkünden zu lassen: Doch nicht bloß, weil einer wie Otto Schily vergessen hat, dass er am Grab des RAF-Häftlings Holger Meins neben Rudi Dutschke stand und traurig grimmig dessen Verpflichtung "Der Kampf geht weiter!" einverständig unkommentiert ließ. Er macht nun unspaßige "Sicherheitspakete“, in denen George Orwell keine Luft bekäme.
Es reicht als Erklärung auch nicht, staatsmännisch wie Johannes Rau über die Turnschuh-Vergangenheit des Vize-Kanzlers Joseph Fischer (Bündnis 90/Grüne) hinwegzusehen, weil er nun in Joggingpuschen oder im Dreiteiler eine telegenere Figur macht.
Was, so fragte unlängst der über sich selbst am meisten belustigte Moderator Hans-Jürgen Börner (NDR3), hat wohl diesen Schily so verändert, dass sein früherer Kanzlei-Kompagnon Christian Ströbele ihn kaum mehr wiedererkennen könne? Ströbele zuckte ratlos die Achseln.
Edmund Stoiber (CSU), ein erwachsen gebliebener Junge, urteilte fachmännisch, man graue halt im Alter nach.
Was, so fragte im Frühjahr noch die gekränkte Meinhof-Tochter Bettina Röhl, sollte wohl einen Mann wie Fischer, der auf am Boden liegende Polizisten eindriocht schon so seelisch und charakterlich verändert haben, dass er verantwortlich ein Außenamt leiten kann?
Einer, der bei seinem früheren schlagfertigen Freiheitskampfeswillen nun den Palästinensern womöglich von einer Intifada abraten müsste, jener übergroßen und gemeingefährlichen "Putztruppe“. Einer, der damals Inspiration bei ihnen suchte?
Die üblichen staatsmännischen Kommentatoren, die Oberlehrer einer Rabauken-Nation aus notorisch militaristischen Nicht- oder Wiederholungswählern, erkannten dennoch sofort die demokratischen Lernschritte eines zur Kohl´schen Dicke aufgeblähten Fischer., The One and Only without Netz So, wie sie schon vor Generationen die Lernschritte attestiert hatten für die NS-Schergen, die im Nachkriegsdeutschland zu Recht von den 68ern oder 69ern wie Fischer angegriffen wurden. So, wie sie in "dem Mädchen" (Helmut Kohl, CDU) Angela Merkel gleich einen "Generationenwechsel" und eine "Erneuerung" ausmachten, ja sogar in Björn Engholm (SPD) und Gerhard Schröder (VW) die "Enkelgeneration" gerade noch vorm Rentenalter erkannten.
Die Luft und der Morgen sind vergiftet von derlei Déjà-vu-Exercitien und Knallchargen-Entjugendfizierungen, die eine angelernte Demokratie - die 1989 sogar noch per Begrüßungsgeld an Dritte ausgehändigt wurde - von Generation zu Generation wie ein Schulzeugnis weiterreichen: Mittlere Reife reicht für Mittlere Regierung.
Das alles könnte als launige Albernheiten abgetan werden, sich die Welt eben so zu richten, wie man es gerade braucht. Nach dem landläufig beliebten Motto: Was stört mich mein Geschwätz von gestern, wie es der alte Adenauer schon den Seinen als politisches Credo mitgab. Wenn die Grünen vor dem Bundestagswahlkampf noch für die Abschaffung der Bundeswehr und den Austritt auf der NATO auftraten, warum dann nicht in der Regierung mit der weihevoll gepredigten "politischen Gestaltungsmöglichkeit" einen pauschalen Einsatzbefehl für den Kampf an allen Fronten irgendwo auf der Welt und ohne konkretes UNO-Mandat erteilen? Wenn jemand wie Claudia Roth noch vor wenigen Parteitagen gegen den NATO-Einsatz in Jugoslawien sich engagierte, warum sollte sie dann nun nicht für den NATO-Einmarsch in Afghanistan eintreten?
Es könnte auch auf die gewohnte und erduldete Medien-Hausmacherpsychologie zurückzuführen sein, die alles politische Geschehen seit Jahren in einer dramaturgisch bewährten Psychoanalyse-Mischung aus Alfred Hitchcock und Rosamunde Pilcher interpretiert. Da gibt es dann plötzlich keine Parteien mehr, sondern nur noch Demokraten, wenn es um die "Rolle Deutschlands in der Welt“ geht und gegen "Abweichler“. Da gab es rot-grüne "Hochzeiten" und nun rot-gelbes "Brautwerben" in Berlin. Erbrochene Kommentar-Metaphorik, die so auch an Lokuswänden vor aufrechter Männlichkeit stehen könnte.
Aber das dumme Gefühl bleibt, es könnte in diesen Tagen nach dem 11. September 2001 etwas geschehen sein, dass die Welt doch ein wenig verändert, wenn auch nicht angenehm, so doch zumindest weniger verlogen.
Sind - abseits aller volksgeschichtlichen Vorurteile, Altemänner-Phrasen und deutsch-nationaler Allgemeinplätze - die GRÜNEN also der Pubertät entwachsen oder haben sie sich verbogen, als sie für den Kriegseinsatz der Bundeswehr im Deutschen Bundestag stimmten und danach ihr Votum bejubelten? Oder als die Delegierten auf dem Parteitag in Rostock ebenso begeistert von sich waren? Oder plötzlich für etwas stimmen, wogegen sie angetreten waren?
Die Antwort können sie selbst offenbar am wenigsten noch geben. Wie sollten sie auch bei sich selbst sein, wenn sie doch praktisch Geiseln der eigenen Bodyguards sind?
ber der kurze Blick auf ihre kurze Vergangenheit verheißt nichts Gutes: Sie könnten sich tatsächlich ernstlich - und nicht nur aus taktischen Gründen, die Kommentatoren in Verschwörungsmanier auszumachen glaubten! - gewandelt, verbogen, gebeugt, gefunden oder angepasst haben. Hin zu welchem unausgesprochenen Idealzustand für deutsche Politiker?
Es ist, so ist zu fürchten, wenn man sich kurz erinnert, alles ernst gemeint, was Joseph Fischer und Claudia Roth (im doppelten Sinne) von sich geben. Sie glauben - mit derselben Innigkeit und dem Gewissen - mit dem vorher das Gegenteil verkündet wurde, was sie nun sagen.
Das wäre allerdings furchtbar, wenn sie (sich) noch ehrlicher als ein Guido Westerwelle wären. Es ist auch nicht pathologisch, sondern es ist eben "die Wirklichkeit“, die sie plötzlich genauso als die "ihre" überschätzen wie die, die ihnen vorher mangelnden Wirklichkeitsbezug vorwarfen.
Die GRÜNEN sind schlicht an ihren sogenannten "Jugendsünden" vergreist, allerdings furchtbar anzusehen und mit schrecklichen Folgen. Sie sind mit sich selbst unversöhnte, aber nur sich treue Tausendprozenter. Alternativen denken ist so für sie nicht mehr möglich. Sie stehen sich selbst im Weg.
Was denn sollte jemand auch noch tun, um sich mit über Vierzig endlich anerkannt "erwachsen" fühlen zu dürfen, der in seiner Wohngemeinschaft mit dem lustigen Spruch "High sein, frei sein - ein bisschen Terror muss dabei sein" auf wuchs und am Ende des Parteitags in Rostock - lustigerweise wie so ein Kriegsbeginn eben ist - einen Joint geschenkt bekommt?
Was soll denn einer aufrecht noch sagen, der sich seinerzeit in Lederjacke und Käsemauken auf palästinensischen Konferenzen auch damit abfand, dass Passagierflugzeuge fürs pseudopolitische Geschäft entführt wurden?
Was sollte denn jemand nun meinen, der den Kommandante Che Guevara bewunderte, der doch schwor, dass GIs auf der Welt nirgends einen Platz mehr finden würden, an dem sie nicht um ihr Leben fürchten müssten?
Es gibt keinen anderen Weg als von einer Sekunde auf die andere zu altern, was die Tränensäcke hergeben.
Da sind beileibe keine niedlichen Pubertätspickel mehr, die irgendwann mit den Diäten abfallen würden. Es sind allerdings die Ausgangspunkte für Hörnchen sichtbar, die den Funktionären der GRÜNEN derzeit zu wachsen drohen.
Die GRÜNEN haben sich, wie die PDS, nicht von den alten Kadern trennen können, die dem Irrsinn des heutigen Terrors brüderlich nahe standen: Jene, die in den Siebziger Jahren zu Recht als "Politsektierer" Belachten von der KPD/Aufbauorganisation, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, dem Kommunistischen Bund und anderen Pfadfindergruppen.
Ausgerechnet sie aber leiten heute als "Vertreter" der grünen Basis, die dafür keine Zeit und Nerven hatte, heute Planungsstäbe in Bundesministerien. Ohne dass ihre Basis oder ihre Wähler das so unter dem Logo "Grün" je entschieden hätten. Ebenso wie unter Christdemokraten manch Nazi, Marinerichter, Ehrenwortler oder Geldwäscher sein Dach fand für "Verdienste an der Demokratie“.
Diese in jeder Hinsicht pragmatischen GRÜNEN haben - anders als viele Ur-GRÜNE - die Chance nicht genutzt, in den zähen, kraftraubenden Bürgerinitiativen zu lernen, wie Demokratie in Deutschland funktioniert oder eben nicht. Und die Basis kann sie nicht mehr abwählen, sondern wird von ihnen abgewählt. Parteisprecher Fritz Kuhn freute sich nach dem Rostocker Parteitag, dass es Parteieintritte gegeben habe; die Parteiaustritte von GRÜNEN-Gründern blieben unbedauert.
Eine Metamorphose ist das keineswegs in einer Parteienlandschaft, in der auch der SPD-„General" Müntefering es nicht problematisch empfindet, aufmüpfigen Abgeordneten anzudrohen, sie würden nicht mehr in den Bundestag kommen oder ihnen den Rücktritt von ihrem Wahlamt indirekt zu empfehlen.
Solche GRÜNEN sind jedenfalls keine im Pelz gewendeten Wölfen, die sich nun wie Schafe um ihre Herde sorgen. Sie waren nicht einmal Wölfe, obwohl sie trefflich mitheulen.
Sonst wüssten sie wohl, dass das Geschrei über den Terror, das in der Bundesrepublik schon in den Siebziger Jahren entfacht wurde, zu nichts geführt hat. Die Ermordung von US-Soldaten in Deutschland hat keine Bombenangriffe nach sich gezogen. Die Angriffe und Attentate auf Politiker, Richter, Staatsanwälte, Bankiers haben zu keinem Einsatz der Bundeswehr im Innern geführt, auch wenn dies - wie heute - von einigen besonderen Demokratiebewahrern befürwortet wurde. Die Vernetzung der RAF mit anderen Terrororganisationen in Europa und im Nahen Osten hat die NATO zu keinem "Bündnis-Fall" gebracht.
Da haben diejenigen Glück gehabt, die jetzt die Regierung stellen, seinerzeit auf Politiker getroffen zu sein, die trotz aller Hysterie noch ein anderes Maß fanden auf solche "Herausforderungen" zu reagieren: Verbrecher wurden als solche erkannt und unbeirrt als "Terroristen" trotz des eigenen Etiketts des "Freiheitskämpfers" bezeichnet; Desperados wurden verfolgt wie es damals ungelenk mit aller Polizei-Staatsgewalt, aber eben ohne B-52 möglich war.
Doch die eitlen Funktionäre der GRÜNEN müssen sich nun stattdessen als Schafe im Wolfspelz beweisen. Sie müssen nicht beweisen, dass sie gelernt hätten, sondern dass sie der Maßstab alles Dagewesenen und Kommenden sind. Sie müssen perfekter als das sein, von dem sie glauben, dass man es von ihnen erwarten können müssten nach dem, was ihnen früher zugetraut wurde.
Deshalb riecht es nach Schwefel, wenn Claudia Roth, "Joschka" The Turnschuh Fischer und Kerstin Müller somnambul in die Kameras lächeln. Wenn sie Sätze sagen, die vor zwei Jahrzehnten nicht unter zwei Wochen verschärften WG-Küchendienst abgemahnt worden wären.
Und wenn sie mit Applaus, Jubel und Grimmigkeit der Selbstgerechten und komfortabel Eingeschlossenen einen Krieg beschließen, der sie vor gar nicht so langer Zeit auf der anderen Seite gesehen hätte, als Afghanistan noch von den Sowjets oder der CIA zu "befreien" war. Die Proteste gegen diese mörderischen Kriege seit Beginn der Achtziger waren nur zu auffällig dünn.
Sie geben nun ihr "Vertrauensvotum" ab wie geschlagene Gören, die vom Vater zum Liebesschwur genötigt wurden. "Vertrauen" und "Solidarität" sind endgültig Neusprech geworden.
Was aber bleibt dem, der die GRÜNEN wählte und erst in diese Situation in völliger Verkennung des Führungswillens seiner Funktionäre einbrockte? Er muss Erpressungen und Verhöhnungen über sich ergehen lassen, wie sie andere Parteien schon länger ihrer Klientel zugemutet haben. Die gewählten Abgeordneten dürften nicht ihrem Gewissen gemäß abstimmen, weil sie sonst einem Parteitag vorgriffen. Der Parteitag dürfe sich nicht abmaßen, eine Bundesregierung zu stürzen, die mühselig gesichert sei. Sonst käme alles noch viel schlimmer. Netter kann man es dem nicht sagen, von dem man die Stimme haben will: Halt´s Maul!
Die GRÜNEN-Parteispitze hat im Bundestag und auf dem Parteitag ihren "Burgfriedensbeschluss" gemacht wie die SPD im Ersten Weltkrieg. Nur können jetzt als Konsequenz daraus keine kommunistischen Splittergruppen mehr entstehen - die sind eh schon bei den GRÜNEN als Trümmer einer unverstandenen und unbearbeiteten Geschichte gestrandet.
Früher begann der Tag mit einer Schusswunde. Aber man wusste oder ahnte, wann solche Tage zu Ende gehen würden. Das ist nun anders geworden.
Denn mit dem Wahltag im kommenden Herbst wird zwar das Gespenst einer "Jugendrevolte-Partei" endgültig verschwunden sein. Aber danach hat nur noch das Grottige das Sagen. Dann wird das Aufstehen wieder Pflicht.
Dieser Nachruf erschien Ende 2001 in zwei Teilen in der "Jugen Welt". Sie waren die einzigen, die es sich mit "Den Grünen" verscherzen mochten - aber die Zahlungsmoral des Blattes bedurfte der anwaltlichen Nachhilfe, so sind die jungen Weltler ...
Bloß wieder ganz nach oben!
|